Was von Hugo Chávez bleibt

Zehntausende Menschen feierten am vergangenen Wochenende in Managua den 35. Jahrestag der Sandinistischen Revolution. Während der Rede von Nicaraguas Präsident Daniel Ortega auf der Plaza de la Fe trugen Helfer eine lebensgroße Statue auf die Bühne und stellten sie vor einen Stuhl, der direkt neben dem Staatschef freigehalten worden war. Sie stellte unverkennbar den im vergangenen Jahr Verstorbenen Präsidenten der Bolivarischen Republik Venezuela dar. »Hugo Chávez ist hier!« rief Ortega aus, während aus den Lautsprechern der Wahlkampfsong von 2012 – »Chávez, Herz des Volkes« – tönte. Der Blick streifte hinüber zu dem Denkmal für den venezolanischen Präsidenten, das nach dessen Tod im vergangenen Jahr an dem großen Platz errichtet worden war.

 

In Nicaragua und ganz Lateinamerika ist Hugo Chávez auch fast anderthalb Jahre nach seinem Verschwinden präsent. Vor allem aber in Venezuela und ganz besonders in Caracas stößt man an jeder Straßenecke auf sein Bild. Ob als Wahlplakat in den Fenstern eines der vielen neuen Wohnhäuser oder als Graffiti an einer Mauer in der Innenstadt, ob als überlebensgroß aufblasbare Figur auf einer Demonstration oder als geschnitztes Andenken auf einem Markt – an Chávez führt nichts vorbei. Viele tragen auch heute noch die in allen Farben erhältlichen T-Shirts, die nur das Augenpaar des Präsidenten zeigen – und jeder versteht die Botschaft.

Am Montag wäre Hugo Chávez 60 Jahre alt geworden, und die Regierung hat zahlreiche seiner Weggefährten, vor allem Staats- und Regierungschefs aus Lateinamerika, zur Feier eingeladen. Zu den Gästen gehören die Präsidenten der Mitgliedsstaaten des südamerikanischen Wirtschaftsblocks MERCOSUR, der am Dienstag in Caracas sein jährliches Gipfeltreffen durchführt. Vor allem soll das Volk an den Veranstaltungen zur Erinnerung an Chávez teilnehmen und »feiern, daß Gott uns einen Mann von der ethischen, moralischen, intellektuellen und spirituellen Größe unseres geliebten Comandante geschenkt hat«, wie es Venezuelas Präsident Nicolás Maduro am Mittwoch bei einer Fernsehansprache sagte.

Solche religiösen Formulierungen sind in Venezuela keine Ausnahme. Die führenden Köpfe des bolivarischen Prozesses haben dem am 28. Juli 1954 in einfachsten Verhältnissen in Sabaneta geborenen Hugo Chávez, der Militär wurde, 1992 mit einem Aufstand die korrupte Regierung stürzen wollte und am 6. Dezember 1998 zum Präsidenten seines Landes gewählt wurde, längst den Titel des »Ewigen Obersten Comandante« verliehen, und bis heute beruft sich Maduro bei praktisch jeder Entscheidung darauf, daß dies die Umsetzung des Programms seines Vorgängers sei. Doch was bleibt von Hugo Chávez außer einer solchen leidenschaftlichen, aber doch oberflächlichen Verehrung?

Zunächst einmal ist es die von ihm angestoßene »Bolivarische Revolution«, die seinen Tod überdauert hat. Nicolás Maduro ist es trotz einer gewaltsamen Kampagne der Regierungsgegner und trotz eigener Unsicherheiten gelungen, sich an der Spitze des Staates zu behaupten. Nun soll es darum gehen, den von Chávez eingeschlagenen Weg weiterzugehen. »Die große Aufgabe ist die Schaffung und Entwicklung des neuen produktiven Wirtschaftsmodells und die Überwindung der Erdölrentenökonomie«, erläuterte er am Donnerstag im gerade gestarteten englischsprachigen Programm des lateinamerikanischen Fernsehsenders TeleSur im Gespräch mit dem britischen Publizisten und Filmemacher Tariq Ali. »Das Hauptthema unserer Revolution«, so Maduro weiter, »ist die Entwicklung eines modernen, produktiven Wirtschaftsmodells sozialistischen Charakters.«

Sozialismus als Ziel – Die historische Leistung von Hugo Chávez war es, als erster nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Verbündeten in Europa eine solche Losung wieder populär gemacht zu haben. Im Januar 2005 – sechs Jahre nach seinem Regierungsantritt – hatte er das Wort zum ersten Mal öffentlich in den Mund genommen. »Dem Volk seine Rechte zu verweigern ist der Weg in die Grausamkeit, der Kapitalismus ist Grausamkeit«, rief er bei einer Kundgebung am Rande des Weltsozialforums im brasilianischen Porto Alegre aus. »Es ist notwendig, den Kapitalismus zu überwinden – das sagen auch viele Intellektuelle. Aber ich füge hinzu: Der Kapitalismus wird nicht aus sich selbst heraus überwunden werden. Der Kapitalismus muß auf dem Weg des Sozialismus überwunden werden.« Gleichheit und Gerechtigkeit seien die Merkmale des echten Sozialismus – »Aber das ist nicht die Demokratie, die uns Mister Superman in Washington aufzwingen will, denn die ist keine Demokratie.«

Unter Hugo Chávez hat Venezuela viel erreicht. Vieles andere, was als Ziel proklamiert wurde und wird – wie etwa die endgültige Überwindung der Armut – steht noch aus. In manchen Bereichen mußten Rückschläge hingenommen werden. Doch Venezuelas revolutionärer Prozeß hat die Schockstarre der Linken in den 90er Jahren aufgebrochen. Das bleibt die historische Leistung von Hugo Chávez – auch unabhängig davon, wie der konkrete Prozeß in Venezuela letztlich weitergeht.

Erschienen am 26. Juli 2014 in der Tageszeitung junge Welt