Wahlkämpfer in Schockstarre

Nach dem Tod des Präsidentschaftskandidaten Eduardo Campos hat in Brasilien die Diskussion darum begonnen, was das Unglück für die Wahlen am 5. Oktober bedeutet. Der Spitzenmann der Brasilianischen Sozialistischen Partei (PSB) war am Mittwoch ums Leben gekommen, als sein Privatflugzeug über der nahe São Paulo gelegenen Hafenstadt Santos abstürzte. Neben dem Politiker starben auch die beiden Piloten und vier weitere Passagiere. Die Ursache des Unglücks ist noch unklar. Campos’ Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, die frühere Umweltministerin Marina Silva, war nicht an Bord der Maschine. Ob sie aber die Sozialisten nun als neue Spitzenkandidatin in die Wahl führt, ist innerhalb der sozialdemokratisch orientierten Partei, die sich nach außen noch in einer Schockstarre befindet, umstritten.

 

Das Duo Campos/Silva, das in den Umfragen hinter Amtsinhaberin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) und Aécio Neves von der Partei der brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB) auf dem dritten Platz rangierte, war immer ein reines Zweckbündnis. Silva war 2008 als Umweltministerin im Kabinett des damaligen Präsidenten Lula da Silva zurückgetreten, unter anderem, weil sie dessen Akzeptanz von Gentechnik ablehnte. Im Präsidentschaftswahlkampf 2010 profilierte sie sich für die Grüne Partei als Umweltschützerin. Eduardo Campos, 2014 ihr Bündnispartner, war im Kabinett Lula bis Mitte 2005 Minister für Wissenschaft und Technik. Und in dieser Funktion war er maßgeblich mitverantwortlich für die von Silva so bekämpfte Legalisierung genmanipulierter Organismen in Brasilien.

Ein solches Hin und Her ist für Brasiliens Politik nicht ungewöhnlich, sondern die Regel. Bündnisse zwischen den diversen Parteien reichen über alle politischen Lager hinweg. Auf regionaler Ebene kommt es immer wieder zu Allianzen zwischen Kräften, die sich auf nationaler Ebene spinnefeind sind – und umgekehrt. Marina Silva selbst verkörpert diese Widersprüchlichkeit. International auch von manchen Linken hofiert, galt sie schon bei der Wahl 2010, als sie für die Grünen überraschende 19 Prozent der Stimmen holte, als Hoffnungsträgerin enttäuschter Anhänger der PT. Zugleich wurde sie aber auch von vielen Anhängern evangelikaler Sekten unterstützt, die in Brasilien 25 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Silva selbst gehört seit 2004 den »Assembleias de Deus« (Versammlungen Gottes) an und vertritt deren reaktionäre Positionen, zum Beispiel im Widerstand gegen eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen.

Nach dem Tod von Kandidat Campos ist Silva nun die Favoritin für dessen Nachfolge als Präsidentschaftsaspirantin der PSB. Fünf Kleinparteien, die sich als Bündnis »Unidos pelo Brasil« (Vereint für Brasilien) zur Unterstützung der PSB zusammengefunden haben, sprechen sich bereits offiziell für Silva aus. Der neue PSB-Chef Roberto Amaral betonte gegenüber der Zeitschrift Carta Capital jedoch, seine Partei habe das »exklusive Recht«, über ihren Spitzenkandidaten zu entscheiden. Offenbar gibt es in den eigenen Reihen starke Vorbehalte gegen die Politikerin, die sich erst im vergangenen Jahr der PSB angeschlossen hatte, nachdem ihre eigene, neugegründete »Rede Sustentabilidade« die Zulassung als Partei verpaßt hatte. Diese agiert inzwischen de facto als Strömung innerhalb der PSB und würde durch eine Spitzenkandidatur ihrer Frontfrau natürlich deutlich aufgewertet werden. Das könnte die Sozialisten in der jetzigen, unerwarteten Situation vor eine Zerreißprobe stellen. »Campos war unser Kandidat und vorbereitet. Eduardo war es, der uns geeint hat. Wir haben niemanden, der ihn ersetzen kann«, beklagte etwa Júlio Delgado, einer der wichtigsten Sprecher des Verstorbenen, gegenüber der Zeitung Estado de Minas.

Für die Nominierung eines neuen Spitzenkandidaten hat die PSB bis zum 23. August Zeit. Dafür notwendig ist nach dem brasilianischen Gesetz ein Beschluß mit absoluter Mehrheit ihrer Leitungsgremien. Nominiert werden kann nur ein Mitglied der Partei. In der brasilianischen Presse wird jedoch auch schon spekuliert, daß sich die PSB ganz von den Wahlen zurückziehen oder einen der beiden in den Umfragen führenden Kandidaten unterstützen könnte.

Erschienen am 16. August 2014 in der Tageszeitung junge Welt