Wahl ohne Entscheidung

Airbus-Chef Tom Enders ruft seine Arbeiter auf, am Sonntag ihre Stimme »für ein politisch, wirtschaftlich und militärisch starkes, belastbares und demokratisches Europa« abzugeben. Eine geringe Beteiligung wäre ein schlimmes Zeichen, »wenn man bedenkt, wie wichtig das Europäische Parlament und seine Rechtsvorschriften sind«, schrieb er am Dienstag nach Angaben der Agentur Reuters in einem Brief an die »Mitarbeiter« des Konzerns. Auch die Bundestagsabgeordnete Sabine Leidig (Die Linke) appelliert, am Sonntag wählen zu gehen. »Wenn Alexis Tsipras, der Spitzenkandidat der Europäischen Linken, den Kommissionsvorsitz gewönne, dann wäre das eine wirklich bedeutsame Wahl gewesen«, schreibt sie in einem Kommentar für die Internetseite kommunisten.de, deren »Herausgeberkreis« sie angehört.

 

Wie Enders und Leidig tun auch SPD, CDU/CSU und die großen Massenmedien so, als ob am Sonntag tatsächlich entschieden würde, wer Nachfolger von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso wird. Tatsächlich aber stehen weder der von den Sozialdemokraten ins Rennen geschickte Martin Schulz noch sein Konkurrent von den Konservativen und Christdemokraten, Jean-Claude Juncker, zur Wahl – und auch nicht Tsipras oder die von Grünen, Liberalen und Piraten nominierten Aspiranten. Der nächste Kommissionspräsident wird wieder von den Regierungschefs ausgekungelt, deren Gipfeltreffen im EU-Jargon »Europäischer Rat« heißt. »Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament«, heißt es im Artikel 17, Absatz 7 des EU-Vertrags. »Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.« Klartext: Wer neuer Kommissionspräsident wird, schlagen die Regierungschefs vor, das Parlament darf das nur noch abnicken. Tsipras könnte also 100 Prozent der Stimmen im Parlament haben – wenn er von den Regierungschefs nicht nominiert wird, können ihn die Abgeordneten nicht wählen.

Ohnehin ist die einzige Instanz, die Gesetze und Verordnungen vorschlagen darf, die Kommission. Theoretisch haben die Abgeordneten zwar oft die Möglichkeit, einen solchen Entwurf zu blockieren, aber sie selbst können kein einziges Gesetz initiieren. Bei den EU-Gipfeltreffen beschränkt sich die Mitwirkung des Parlaments sogar darauf, daß sein Präsident vor Beginn der Beratungen ein paar launige Worte sagen darf. Und dann beginnt die eigentliche Tagung.

Was dabei hinter verschlossenen Türen verhandelt wird, hat Auswirkungen auf die Tagespolitik in allen EU-Mitgliedsstaaten. »Bankenrettung« und Militäreinsätze, die Abschottung gegen Flüchtlinge und immer neuer Sozialabbau – die Treffen sind immer für böse Überraschungen gut. Doch offizielle Protokolle gibt es nicht, lediglich eine Unterrichtung des Europaparlaments durch den Ratspräsidenten, derzeit Herman Van Rompuy. Aber es gibt Notizen, die von je zwei Diplomaten jeder Delegation angefertigt werden. Dem österreichischen ORF-Journalisten Raimund Löw und seiner Kollegin Cerstin Gammelin von der Süddeutschen Zeitung ist es gelungen, an diese Notizen heranzukommen. Sie haben daraus ein Buch gemacht, das Anfang des Jahres erschienen ist.

Formell sind in den Kungelrunden des Europäischen Rates alle Teilnehmer gleichberechtigt – Angela Merkel ebenso wie etwa Maltas Regierungs­chef Joseph Muscat. Aber, wie ein zyprischer Diplomat in dem Buch von Gammelin und Löw zitiert wird: »Wir haben gelernt, daß es Gleiche und Gleiche gibt.« Er bezieht sich auf die Lage im Herbst 2012: »Griechenlandrettung ist, wenn Schäuble und Lagarde die Köpfe zusammenstecken und einen Plan machen, dem die anderen zustimmen müssen.« Auf einem damals entstandenen Foto ist zu sehen, wie der Bundesfinanzminister und die IWF-Chefin miteinander über einem Papier brüten, während zwei Dutzend Finanzminister auf ihre Entscheidung warten.

Aus den Notizen, die die beiden Buchautoren zusammengetragen haben, wird deutlich, wie Launen und Stimmungen das Klima unter den »Großen« beeinflussen. Sie zeigen aber auch, was wirklich Entscheidungen bei den EU-Gipfeltreffen verhindern oder befördern kann. Die Diskussionen im Europaparlament sind es nicht. Es sind Arbeitskämpfe und Großdemonstrationen. So warnte der belgische Ministerpräsident im Juni 2012, er könne keinen Beschluß mittragen, der »die Ruhe mit den Gewerkschaften« gefährde.

Cerstin Gammelin, Raimund Löw: Europas Strippenzieher: Wer in Brüssel wirklich regiert. Econ Verlag, Berlin 2014, 19,99 Euro

Erschienen am 24. Mai 2014 in der Tageszeitung junge Welt