Vor der Wahl in Venezuela

Venezuelas Präsident Hugo Chávez wird am 10. Januar an der Amtseinführung des neuen Präsidenten Nicaraguas, Daniel Ortega, teilnehmen. Das berichtet die Zeitschrift „Resumen Latinoamericano“ unter Berufung auf den Botschafter Venezuelas in Managua, Miguel Gómez. Der Diplomat wies allerdings darauf hin, dass zunächst die venezolanische Nationalversammlung die Auslandsreise des Präsidenten genehmigen müsse.

Der Diplomat hätte auch hinzufügen können: und Chávez muß vorher nur noch schnell die Präsidentschaftswahl am 3. Dezember gewinnen. Aber warum sollte er? Wenn die Wahl sauber abläuft, wird Hugo Chávez sie mit großem Abstand gewinnen. Darauf deuten alle seriösen Umfragen hin. So ergab eine Studie der Universidad Complutense de Madrid (UCM) zwischen 55,8 und 57,8 Prozent Unterstützung für Chávez – und damit mehr als das Doppelte der Werte des wichtigsten Oppositionskandidaten Manuel Rosales, der auf 25,9 bis 26,9 Prozent der Stimmen geschätzt wird.
Der oppositionellen venezolanischen Tageszeitung „2001“ stießen solche Zahlen offenbar besonders auf, sie beeilte sich jedenfalls, die Zahlen zu relativieren: „Diese Zahlen steigen auf 59 Prozent für Chávez und 49 Prozent für Rosales, wenn man die qualitativen Antworten berücksichtigt…“ – Eine Wählerschaft von 108 Prozent?

Es ist kein Wunder, dass der Opposition die mathematischen Grundrechenarten verloren gehen, ist doch jede neue Umfrage, egal von wem sie kommt, ein neuer Hieb. So sieht das US-amerikanische Institut Evans / McDonough Chávez bei 57 Prozent und Rosales bei 35 Prozent. Selbst in den Umfragen, in denen Chávez die schwächsten Werte erhält, liegt er immer noch 20 Prozentpunkte vor seinem „schärfsten Konkurrenten“, so in einer Studie des Instituts Hinterlaces, die von der Zeitung „El Mundo“ in El Salvador veröffentlicht wurde und für Chávez ein Ergebnis von 45 Prozent sowie für Rosales von 25 Prozent ermittelte. Hierbei handelt es sich um eine der berüchtigten Telefonumfragen, die schon durch diese Befragungsart den größten Teil der armen Bevölkerung ausschließen, die in ihren Hütten keinen Telefonanschluß haben – aber unter denen der amtierende Präsident die größte Unterstützung genießt. Auch das äußerst kritisch der Regierung gegenüberstehende Institut Datanálisis kommt auf ein Ergebnis von 60 Prozent für Chávez und 40 Prozent für Rosales, Zahlen die den Ergebnissen der Wahlen von 1998 und 2000 sowie dem Referendum von 2004 entsprechen würden.

Angesichts solcher Zahlen stürzten sich die oppositionellen Medien am Donnerstag begeistert auf eine neue Umfrage, die plötzlich eine dramatische Aufholjagd Rosales’ feststellte, der mit 42 Prozent nur noch sechs Punkte hinter dem amtierenden Präsidenten liege, der auf 48 Prozent komme. „Rosales verringert Abstand zu Chávez auf sechs Prozent“, jubelte der Oppositionssender „Globovisión“ auf seiner Homepage ebenso wie der „Miami Herald“ und die gesamte Oppositionspresse. Nur das bereits zitierte Oppositionsblatt „2001“ wies vorsichtig darauf hin, was denn das eigentlich für ein Institut ist, das diese Zahlen verbreitet hat: „Penn Shoen and Berland“ hat seinen Firmensitz in New York und Washington. Zu den früheren Auftraggebern des Instituts gehören Silvio Berlusconi, Bill Clinton und der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert. Das Institut, das nicht mitteilte, wer diesmal diese Umfrage bezahlt, hatte vor dem Referendum über eine vorzeitige Abberufung des Präsidenten im August 2004 ebenfalls ein Kopf-an-Kopf-Rennen vorausgesagt. Chávez gewann damals mit 59 Prozent, was einem Abstand von 19 Prozentpunkten entsprach.

Unterdessen zerbröselt das Oppositionslager schon vor dem Wahltag. Die SPD-Bruderpartei „Acción Democrática“ (AD), eine der beiden Parteien, die sich in den vierzig Jahren vor Chávez Amtsantritt 1999 gegenseitig an der Regierung abwechselten und das Land runierten, hatte sich von Anfang an jeder Unterstützung für Rosales enthalten und ruft zum Wahlboykott auf – ein politischer Selbstmord wie im vergangenen Dezember, als die Oppositionsparteien wenige Tage vor der Parlamentswahl ihre Kandidaten zurückzogen und so für ein nahezu hundertprozentig bolivarianisches Parlament sorgten. Die AD höhnt (zu Recht), der Kandidat Rosales sage heute das eine und morgen sagten sein Wahlkampfstab und seine Anhänger etwas ganz anderes.

Ein solcher Punkt ist das Getöse, das die Opposition um den Einsatz von Wahlmaschinen und die Abnahme von Fingerabdrücken macht. Die Automatisierung der Wahlen ist eine Konsequenz aus früheren Erfahrungen, als in großem Maßstab Verstorbene im Wählerverzeichnis auftauchten und Manipulationen Tür und Tor geöffnet war. Sogar die US-finanzierte Organisation „Súmate“ mußte zugeben, dass durch den Einsatz dieser Technik ein Zurückverfolgen der Herkunft der Stimmen nicht möglich und somit das Wahlgeheimnis garantiert ist. Trotzdem forderte Súmate-Sprecher Alejandro Plaz bei einer Pressekonferenz in Caracas, die Maschinen nicht einzusetzen, da sie die Wähler „einschüchtern“ würden.

Offensichtlich soll die Debatte um die Wahlmaschinen und Fingerabdrücke dazu dienen, wie im vergangenen Dezember den Boden für einen Rückzug von Rosales noch vor dem Wahltag zu ebnen. Ein Konkurrent, der diesen Ausweg bereits für sich gewählt hat, ist der Komiker Benjamín Rausseo, Besitzer eines Vergnügungsparks auf der Ferieninsel Margarita. Der auch unter seinem Künstlernamen „Graf von Guácharo“ (was sowohl eine Höhle in Monagas als auch den Fettschwalm, eine Vogelart, bezeichnet) bekannte Komiker hatte eine eigene Partei, die Unabhängige Wahlpartei der fortgeschrittenen Antwort“, gegründet, deren Kürzel das spanische Wort „Piedra“ (Stein) ergibt. Angesichts seiner wie ein solcher Stein abstürzenden Umfrageergebnisse und der Polarisierung zwischen Chávez und Rosales erklärte Rausseo jedoch am vergangenen Mittwoch seinen Rückzug, vermied es aber gleichzeitig, zur Wahl eines anderen Kandidaten aufzurufen. Damit enttäuschte er vor allem Hoffnungen des Rosales-Lagers, die ihn zuvor scharf für seine eigenständige Kandidatur angegriffen hatten.
Ein großangelegter Rückzug der Opposition wird diesmal allerdings schwerer als vor einem Jahr, denn neben Chávez und Rosales stehen trotz Rausseos Rücktritt noch weitere fünf Kandidatinnen und neun Kandidaten zur Wahl.

Die oberste Wahlbehörde des Landes, der Nationale Wahlrat (CNE), hat außerdem in einer breiten Informationskampagne den Vorwürfen den Wind aus den Segeln genommen. Detailliert führt das Gremium zum Beispiel in einer Informationsbroschüre auf, warum es unmöglich ist, aus den Fingerabdrücken das Wahlverhalten nachzuvollziehen: „Die Wahrheit ist, dass sowohl die Experten der Europäischen Union wie auch der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bestätigt haben, dass nur unter Laborbedingungen, die es in der Realität nicht gibt, so etwas entfernt möglich sein könnte“. Ausserdem müssten sich alle Mitglieder der Wahlausschüsse und anwesenden Zeugen an solch einem Manöver beteiligen – und das im ganzen Land. Hingegen sprechen gute Gründe für die Abnahme des Fingerabdrucks, der sich auch auf dem venezolanischen Personalausweis befindet. In der Vergangenheit hatten nämlich immer wieder bereits Verstorbene auf wunderbare Weise ihre Stimme abgegeben. Sogar auf den Unterschriftenlisten der Opposition, durch die das Referendum 2004 durchgesetzt wurde, hatten Tote gegen Chávez unterschrieben. Da der CNE Wahlberechtigte nur nach Vorlage einer Sterbeurkunde aus dem Wählerverzeichnis streichen kann, können noch immer einzelne Verstorbene in den Wählerlisten auftauchen. Durch die Abnahme biometrischer Daten wird deshalb verhindert, dass jemand die Identität eines Verstorbenen benutzt, um mehrfach zu wählen.
Auch eine Verfälschung des Wahlergebnisses durch die Wahlmaschinen wird durch zahlreiche Sicherheitsmechanismen verhindert. So wird zu jeder Stimmabgabe ein Stimmzettel ausgedruckt, der eine Kontrolle der elektronischen Stimmabgabe ermöglicht. In mehr als der Hälfte aller Wahlurnen werden noch am Wahlabend – nach Schließung der Wahllokale – diese Ausdrucke manuell nachgezählt, um Unregelmäßigkeiten aufzudecken.

Auf eine massive Einmischung der USA in den venezolanischen Wahlkampf wies unterdessen die venezolanisch-US-amerikanische Rechtsanwältin Eva Golinger hin. Die durch ihre Enthüllungen über die Finanzierung der reaktionären Opposition in Venezuela durch die US-Administration bekannt gewordene Publizistin sprach von drei Ebenen, auf denen die Vereinigten Staaten ihre Einflußnahme entwickeln: die direkte Finanzierung des Wahlkampfs von Manuel Rosales, der „diplomatische Terrorismus“ durch Mißbrauch multilateraler Institutionen wie der UNO sowie psychologische Kriegführung gegen Venezuela. Zu letzterem gehöre der Versuch der Bush-Administration, Venezuelas Präsidenten Chávez im Land und weltweit als einen „mit dem Terrorismus verbundenen Diktator, der ganz Lateinamerika destabilisiert“ zu präsentieren. Die USA wollten erreichen, dass die Menschen in Venezuela aus Angst vor einem „Krieg gegen die USA und die ganze Welt“ ihre Stimme nicht für Chávez abgeben.
Golinger setzt auch keine Hoffnung in die Demokraten, die bei den Wahlen die Mehrheit in beiden Kammern des US-Kongresses gewonnen hatten. Sie weist darauf hin, dass die neue Mehrheitsführerin der Demokraten im Repräsentantenhaus, Nancy Pelosi, die erste US-Politikerin gewesen war, die Chávez nach dessen Rede vor der UNO-Vollversammlung angegriffen und als „ordinären Diktator“ beschimpft hatte.

Venezuelas Präsident Hugo Chávez läßt sich unterdessen nicht beirren und weiht neue U-Bahn-Linien, gemeinsam mit dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva eine gigantische Brücke über den Orinoco und andere Infrastrukturmaßnahmen ein – Maßnahmen, die weit über den Wahltag hinaus Bedeutung haben.

Erschienen in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit vom 24. November 2006 und verschiedenen Online-Medien