Volle Kontrolle

In Venezuela werden nun doch hundert Prozent aller bei der Präsidentschaftswahl am vergangenen Sonntag abgegebenen Stimmen überprüft. Das kündigte die Präsidentin des Nationalen Wahlrates (CNE), Tibisay Lucena, am Donnerstag (Ortszeit) in Caracas an, nachdem Oppositionsführer Henrique Capriles dies offiziell beantragt hatte. Zuvor hatte Lucena mehrfach darauf hingewiesen, daß kein solcher Antrag vorgelegen habe und die Behörde deshalb keinen Anlaß zu einer solchen Audition gesehen habe.

 

Bei der Überprüfung geht es darum, die Übereinstimmung zwischen den elektronisch übermittelten Ergebnissen der Wahlmaschinen und den ausgedruckten und von den Wählern in die Urne geworfenen Kontrollzetteln zu überprüfen. Entsprechend des venezolanischen Wahlgesetzes war dies ohnehin bereits bei 54 Prozent aller Urnen geschehen, dabei wurden keine Unregelmäßigkeiten festgestellt. Nun gibt es auch eine Revision der übrigen 46 Prozent. Capriles begrüßte diese Entscheidung.

In einer über alle Rundfunk- und Fernsehsender des Landes übertragenen Ansprache erklärte Lucena, diese vollständige Kontrolle diene dazu, die »gewaltbereiten Sektoren, die Venezuelas Demokratie verletzen wollen, zu isolieren«. Sie äußerte ihre Bestürzung darüber, daß die Weigerung der Opposition, die Ergebnisse vom vergangenen Sonntag anzuerkennen, zum Tod von acht Menschen und zu mehr als 70 Verletzten geführt habe. Zugleich betonte sie, daß die Audition keine »Neuauszählung« der Stimmen sei. Eine solche müsse von interessierter Seite beim Obersten Gerichtshof Venezuelas beantragt werden, was bislang nicht geschehen ist.

Die Kontrollen werden im Beisein der von den Wahlkampfstäben der beiden wichtigsten Kandidaten benannten Techniker durchgeführt. Insgesamt werde die Überprüfung einen Monat dauern, nach jeweils zehn Tagen sollen Berichte zum Zwischenstand veröffentlicht werden.

Ungeachtet der nun angesetzten Kontrolle sollte am Freitag die Vereidigung des gewählten Präsidenten Nicolás Maduro durch die Nationalversammlung stattfinden. Einen Antrag, die Zeremonie abzusagen, schmetterte der Oberste Gerichtshof am Donnerstag abend ab. Nachdem der CNE Maduro zum Wahlsieger erklärt habe, sei die Vereidigung und nicht die Überprüfung der Ergebnisse die Aufgabe der Nationalversammlung. Deshalb könne die Judikative nicht in die Handlungsfreiheit der Legislative eingreifen, eine Verletzung der Verfassung liege nicht vor.

»An diesem Tag des Heimatlandes schwöre ich vor unserem Volk, daß ich den Ideen von Bolívar und Chávez treu sein werde«, kündigte der Staatschef über Twitter an. Geplant war, den offiziellen Amtseid mit einer Massenkundgebung im Zentrum von Caracas zu feiern. Am Abend sollte dann eine Militärparade auf dem Paseo de los Próceres folgen.

Am Vorabend hatten die Staats- und Regierungschefs der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) bei einem eilig einberufenen Gipfeltreffen in Lima dazu aufgerufen, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl in Venezuela zu respektieren. Alle Teile der Gesellschaft müßten die vom CNE verkündeten Resultate respektieren, heißt es in dem Kommuniqué der Versammlung, an der neben Nicolás Maduro die Staatschefs aus Argentinien, Brasilien, Bolivien, Uruguay, Chile und Kolumbien sowie als Gastgeber Perus Präsident Ollanta Humala teilgenommen hatten. Eine Kommission der UNASUR soll zudem die gewaltsamen Ausschreitungen vom 15. und 16. April untersuchen.

Erschienen am 20. April 2013 in der Tageszeitung junge Welt