Verratener Frieden

Das Video ist professionell inszeniert: Vor einem Transparent mit dem Logo der früheren Guerillaorganisation FARC-EP (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Armee des Volkes) stehen etwa zwei Dutzend uniformierte und bewaffnete Männer und Frauen. In ihrer Mitte verliest der Comandante Iván Márquez eine elf Seiten lange Erklärung. Ihr Tenor: Der Friedensprozess ist von der Regierung Kolumbiens verraten worden, man habe keine andere Wahl, als in die Berge zurückzukehren und den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen.

Zu sehen sind in der halbstündigen Aufnahme, die nach eigener Aussage am Río Inírida im Südosten Kolumbiens aufgenommen und in der Nacht zum Donnerstag verbreitet wurde, neben Márquez zwei weitere hochrangige Kommandeure: Jesús Santrich und Oscar Montero alias »El Paisa«. Alle drei hatten der Verhandlungsdelegation angehört, die in Havanna mit der Regierung Kolumbiens den Friedensvertrag aushandelte. Dessen Unterzeichnung Ende 2016 weckte in dem südamerikanischen Land die Hoffnung auf ein Ende des jahrzehntelangen Bürgerkrieges. Vorgesehen waren unter anderem die Einrichtung einer Sonderjustiz für den Frieden, die Freilassung der politischen Gefangenen und eine Bodenreform.

Umgesetzt wurde davon wenig. Zwar wandelte sich die Guerillaorganisation zur legalen Partei »Alternative Revolutionäre Kraft des Volkes« (FARC) um, doch auch über zweieinhalb Jahre nach dem Friedensschluss sitzen noch immer Hunderte Mitglieder im Gefängnis. Die Wiedereingliederung der entwaffneten Guerilleros stockt. Vor allem aber schaut die Regierung tatenlos einer anhaltenden Serie von Morden an ehemaligen FARC-Kämpfern zu. Seit der Unterzeichnung des Abkommens wurden 150 von ihnen umgebracht, ebenso wie 500 weitere Aktivisten sozialer Bewegungen, Gewerkschafter und Linke.

Dieser »verratene Frieden« zwinge die Guerilleros zu einer Entscheidung, heißt es in dem verlesenen Kommuniqué: »Als wir das Abkommen von Havanna unterzeichneten, taten wir das in der Überzeugung, dass es möglich sein würde, das Leben der einfachen Menschen und der Besitzlosen zu verändern. Aber der Staat hat sein Wort nicht gehalten und selbst seine wichtigste Verpflichtung nicht erfüllt, das Leben seiner Bürger zu garantieren und Morde aus politischen Gründen zu verhindern.« Man sei kurz davor gewesen, »den längsten Konflikt unserer Hemisphäre« zu beenden, »aber wir sind gescheitert, weil das Establishment die Prinzipien nicht respektieren wollte, die die Verhandlungen geprägt haben«. Nachdem die Guerilla die Waffen abgegeben habe, sei das Abkommen in Fetzen zerrissen worden.

Deshalb habe nun das »zweite Marquetalia« begonnen – eine direkte Anspielung auf die Gründung der alten FARC-Guerilla 1964 in diesem im Nordwesten Kolumbiens gelegenen Bezirk.

Die Reaktion der ehemaligen Weggefährten ließ nicht lange auf sich warten. Der Vorsitzende der FARC-Partei, Timoleón Jiménez – zu Guerillazeiten oberster Comandante der FARC-EP –, entschuldigte sich »beim Volk Kolumbiens und der internationalen Gemeinschaft« für den Schritt seiner ehemaligen Genossen. Diese seien seiner Ansicht nach keine Parteimitglieder mehr, sagte er dem Sender W Radio. »90 Prozent« der ehemaligen Guerilleros stünden weiter hinter dem Friedensprozess, zeigte er sich überzeugt. Niemand könne den Friedensvertrag zerreißen – »und wenn doch, werden wir Fetzen für Fetzen aufheben und wieder zusammenfügen«.

Erschienen am 30. August 2019 in der Tageszeitung junge Welt