Unser Amerika

Verfassungsfragen sind Machtfragen

Verfassungsfragen sind hierzulande normalerweise Gegenstand akademischer Debatten, die in der Öffentlichkeit nur selten auf Widerhall stoßen. »Das Grundgesetz steht bei mir schon lange im Fach Satire«, scherzte einst der Kabarettist Dietrich Kittner – und ob dieses wichtigste Gesetzbuch der Bundesrepublik tatsächlich eine Verfassung ist, wird auch gerne mal bestritten. Fakt ist jedenfalls, dass die deutsche Bevölkerung bis heute nie abstimmen durfte, ob sie mit dem Grundgesetz einverstanden ist. Die Herrschenden setzen sich über dessen Bestimmungen auch gerne mal hinweg. Schon 1963 rechtfertigte der damalige Bundesinnenminister Hermann Höcherl (CSU) Verstöße des »Verfassungsschutzes« mit den Worten: »Die Beamten können nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen.«

In Venezuela ist das anders. Dort tragen viele Menschen tatsächlich das kleine blaue Buch mit den Grundrechten in der Hemdtasche bei sich. Es ist nicht ungewöhnlich, dass an einer Straßenecke über bestimmte rechtliche Fragen diskutiert wird – und die Kontrahenten prompt ihr Exemplar der Magna Charta aus der Tasche ziehen. Im Parlament halten sie sich Regierungsanhänger und Oppositionelle gegenseitig vors Gesicht, wenn sie beim anderen einen Verstoß dagegen vermuten.

Erbittert wird in Venezuela zur Zeit darum gestritten, ob die 1999 in einer Volksabstimmung angenommene Verfassung überarbeitet werden soll. Für Sonntag, 30. Juli, sind die Wahlen zur Constituyente, zur verfassunggebenden Versammlung, angesetzt. Wie sie ablaufen und welche Arbeit die Gewählten zu leisten haben, wird emotional diskutiert und ist Anlass für Straßenschlachten und Demonstrationen. Gustavo Rodríguez hatte sich als Kandidat für die Wahlen angemeldet, seine Bewerbung wurde von der zuständigen Behörde jedoch zurückgewiesen. Trotzdem setzt er sich für die Versammlung ein. Im Gespräch mit junge Welt erläutert er die Gründe dafür.

Verfassungsfragen sind Machtfragen, in Lateinamerika ganz besonders. In Brasilien galt das Grundgesetz nach den Erfahrungen der Militärdiktatur (1964–1985) als Garant für die Demokratie – bis die obersten Richter die Festlegungen der Verfassung im vergangenen Jahr ignorierten und den Sturz von Präsidentin Dilma Rousseff auf der Grundlage erfundener Anschuldigungen zuließen. Ein Blick auf diese Entwicklungen wirft Peter Steiniger. In Chile gilt bis heute eine Verfassung, die zwar mehrfach reformiert wurde, in ihrem Kern aber immer noch auf die Diktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) zurückgeht. Seit Jahren gehen in dem südamerikanischen Land immer wieder Zehntausende auf die Straße, um eine verfassunggebende Versammlung zu fordern, durch die Chile neu begründet werden könnte. Lena Kreymann hat sich mit dieser Diskussion befasst.

Auftrieb bekamen die Bewegungen in Chile durch die Erfahrungen in Venezuela, Boli­vien und Ecuador, wo ab 1999 neue Verfassungen unter breiter Beteiligung der Bevölkerung ausgearbeitet und verabschiedet wurden. Sie enthalten nun unter anderem soziale und politische Rechte, die oft über das hinausgehen, was etwa im deutschen Grundgesetz zu finden ist. Der baskische Universitätsprofessor Eneko Compains Silva fasst die Geschichte dieser drei Prozesse zusammen.

Erschienen am 26. Juli 2017 in der Beilage »Unser Amerika« der Tageszeitung junge Welt