Venezuela wählt: Klassenkampf

Die Deutsche Presseagentur machte am Freitag unfreiwillig deutlich, warum die Konzernmedien vor den am Sonntag stattfindenden Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung in Venezuela so offenkundig Partei für die rechte Opposition ergreifen. »Durch die Bevorzugung von Vertretern der Arbeiterklasse wird mit einer Mehrheit für Sympathisanten Maduros gerechnet,« tickerte dpa und gab damit für die allermeisten Redaktionen in der Bundesrepublik die Sprachregelung vor. Wie kann es Venezuela auch wagen, ein Wahlsystem auszuprobieren, das eine Zusammensetzung der Constituyente entsprechend der Struktur der Gesamtbevölkerung sichern soll! Die Latinos sollen gefälligst dem Beispiel des Deutschen Bundestages folgen, in dem vor allem Juristen, Politologen und Unternehmer über das Schicksal von Arbeitern, Rentnern oder Erwerbslosen debattieren.

Wenn am Sonntag über die Zusammensetzung der Versammlung entschieden wird, haben die Wählerinnen und Wähler zwei Stimmen – eine, wie gewohnt, für den territorialen Wahlkreis und eine für die Kandidaten, die zur eigenen Bevölkerungsgruppe gehören. Auf diese Weise werden 79 Arbeiter in die Versammlung entsandt – und fünf Unternehmer. Denn, falls es jemand vergessen haben sollte: Es gibt überall mehr Arbeiter als Unternehmer. Die dpa fürchtet deshalb eine Constituyente mit einer Mehrheit »aus Sektoren, die vorwiegend den Sozialisten nahestehen: Arbeiter, Studenten, Rentner und Bauern«.

Das ist der eigentliche Grund, warum die von Angehörigen der Oberschicht geführte Opposition so vehement gegen die Initiative des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro kämpft – und warum sie dabei auf die komplett unkritische Unterstützung der Konzernmedien rechnen kann.

Diese trommeln seit Wochen und Monaten ununterbrochen gegen die Regierung Venezuelas und gegen Maduro. Dabei geht es nicht um durchaus berechtigte Kritik an Bürokratismus, Korruption und Ineffizienz oder an nicht eingehaltenen Versprechen. Es geht gegen einen Prozess, der seit 1999 eine Entwicklung im Interesse der Bevölkerungsmehrheit anstrebt, dabei durchaus beachtliche Erfolge vorzuweisen hat – und der potentiell auch den Kapitalismus in Frage stellt.

Mit Sozialismus hat die in Venezuela aktuell bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung noch lange nichts zu tun – doch schon die Tatsache, dass Hugo Chávez 2005 dieses »verbotene Wort« wieder in die politische Diskussion eingeführt und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft als Ziel proklamiert hat, ist für die in fast allen Ländern der Welt herrschende Klasse eine Bedrohung und macht den bolivarischen Prozess zum Ziel wütender Attacken.

Das muss auch Linken bewusst sein, die völlig zu Recht Widersprüchlichkeiten und Schwächen der venezolanischen Regierung kritisieren.

Erschienen am 29. Juli 2017 in der Tageszeitung junge Welt