»Venezuela gibt ein schlechtes Beispiel«

Gespräch mit Calixto Ortega, Vizeaußenminister der Bolivarischen Republik Venezuela

Die Nachrichten, die wir derzeit aus Venezuela erhalten, sind besorgniserregend. Es gibt wirtschaftliche Probleme und Berichte über Putschversuche. Wie stellt sich die Lage aus Ihrer Sicht dar?

Es gibt zwei Punkte, die meiner Ansicht nach zentral sind: das Erdöl und die Ausübung unserer politischen Souveränität. Seit 1999, als Hugo Chávez das Präsidentenamt antrat, haben sich in Venezuela radikale Veränderungen vollzogen. Dagegen richtet sich ein internationaler Medienkrieg, denn Venezuela verfügt mit 300 Milliarden Barrel Erdöl in einem Gebiet, das Orinoco-Gürtel genannt wird und etwa doppelt so groß ist wie Belgien, über die größten Erdölreserven des Planeten. Hinzu kommen Vorkommen in Zulia, im Osten des Landes und unter dem Meer. Früher wurden diese Reserven von den transnationalen, vor allem nordamerikanischen Ölkonzernen ausgebeutet, die besser über die Rohstoffvorkommen Venezuelas informiert waren als unsere Regierung und die Venezolaner. Auf ihre Gewinne mussten sie damals nur Abgaben in Höhe von einem Prozent und Steuern von etwa fünf Prozent abführen. Unter Hugo Chávez wurden diese Abgaben von einem auf 33,75 Prozent angehoben, während die Steuern auf mehr als 50 Prozent stiegen. Wir sprechen also von Billionen Dollar, die früher in die Kassen der Konzerne flossen, seither aber in Venezuela bleiben und für die Befriedigung der Bedürfnisse in der Gesellschaft eingesetzt werden.

Ende der 90er Jahre waren mehr als 50 Prozent der Venezolaner arm, die extreme Armut lag bei 27 Prozent. Heute liegt die extreme Armut bei unter sieben Prozent, aber unter völlig anderen Bedingungen, denn auch diese Menschen werden nun immerhin satt. Die allgemeine Armut ist auf unter 20 Prozent gesunken, aber auch diese Menschen leben heute unter anderen Bedingungen als früher. Da dies aber den Interessen der transnationalen Ölkonzerne zuwidergelaufen ist, erklärt sich daraus die Feindschaft gegenüber der venezolanischen Regierung. Es gibt keinen Zweifel daran, dass diese Konzerne die Aktionen zunächst gegen den Präsidenten Chávez und nun gegen den Präsidenten Nicolás Maduro finanzieren, denn was sie jetzt dafür investieren, ist nichts im Vergleich zu den Gewinnen, die ihnen bei einer Umkehr des Prozesses in Venezuela winken könnten.

Ein weiteres Feld sind die Außenbeziehungen. Hugo Chávez initiierte eine sehr aktive internationale Politik. Früher wurde ein Großteil der Innen- und fast die gesamte Außenpolitik Venezuelas vom State Department in Washington bestimmt. Präsident Chávez hat das vollkommen umgewälzt, was fast zu einem vollständigen Abbruch der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten geführt hätte. Ich selbst war 2013 – als schon Nicolás Maduro regierte – Geschäftsträger unserer Botschaft in Washington und wurde von der US-Administration ausgewiesen.

Für die USA gab die Außenpolitik von Hugo Chávez ein schlechtes Beispiel. Natürlich war nicht alles, was sich in den vergangenen Jahren in Südamerika verändert hat, das Werk von Hugo Chávez, aber er war der wichtigste Impulsgeber für viele Initiativen. Es entstanden zahlreiche Regierungen neuen Stils mit einem starken Akzent auf soziale Fragen, und das schmeckt dem State Department nicht.

Vor wenigen Tagen informierte Nicolás Maduro über Anschlagspläne von Offizieren der Luftwaffe, die vorgehabt hatten, den Präsidentenpalast Miraflores oder eine Kundgebung von Regierungsanhängern zu bombardieren. Vor fast einem Jahr, im vergangenen März, wurden ebenfalls Putschpläne von Generälen der Luftwaffe aufgedeckt. Hat die Regierung die Flugzeugstaffeln nicht mehr unter Kontrolle?

In der Luftwaffe haben wir eine besondere Situation. 200 oder 300 Männer zu Fuß oder in Autos können keine größeren Probleme verursachen, sie können sehr schnell gestoppt werden. Mit einem einzigen Flugzeug und zwei Mann Besatzung aber, die vielleicht zwei, drei Schüsse abgeben, kann man Chaos provozieren. Was sie damit bezwecken, ist, im Ausland den Eindruck zu vermitteln, dass die Regierung stürzt. Die Soldaten sind ja auch nichts anderes als Venezolaner aus Fleisch und Blut, die nur eben die militärische Karriere gewählt haben. Und unter allen Menschen, seien es Soldaten, Priester oder Journalisten, gibt es auch immer welche mit Schwächen. Natürlich verfügt Präsident Maduro über sehr viel mehr Detailinformationen als ich, aber ich bin mir hundertprozentig sicher, dass diese Offiziere nicht einmal Zugriff auf ein Flugzeug hatten. Deshalb hieß es ja auch, dass das Flugzeug – es sollte sich um eine Tucano handeln – eventuell aus dem Ausland, aus einem Nachbarland, kommen würde.

Hinzu kommt, dass die Tucano ein Flugzeug ist, das praktisch alle Soldaten der Luftwaffe ganz zu Beginn ihrer Laufbahn in der Ausbildung zu fliegen lernen. Jeder venezolanische Pilot also, der eine Suchoi, eine F-16 oder eine Mirage fliegt, hat an Bord einer Tucano angefangen, die das Ausbildungsflugzeug der venezolanischen Luftwaffe ist. Du brauchst dafür also keinen höheren Offizier. Die Gefahr ist, dass sich irgendwelche Jungs verwirren lassen. In Venezuela gibt es eine heftige Propagandakampagne der Opposition über SMS, Twitter, WhatsApp, Facebook und all diese sozialen Netzwerke. So will sie bei einfachen Menschen den Eindruck erwecken, dass hinter ihr Massen stehen, dabei ist es heutzutage nur eine finanzielle und technische Frage, 1.000 Nachrichten zu verbreiten.

Hinter all dem steckt eine Strategie, um nicht zuzulassen, dass ein soziales, linkes Modell im Interesse des Volkes Erfolg haben kann. Wenn diese Erfolg haben würde, würde danach sofort alles auf die Tagesordnung kommen, was die Opposition derzeit zu verbergen sucht. Die Konzerne würden das Land überschwemmen, das Erdöl würde privatisiert werden. Es ist aber über unsere Grenzen hinaus klar, dass das die gesamte region destabilisieren würde. In Kolumbien etwa verhandeln die Guerilla und die Regierung nur deshalb über eine friedliche Lösung, weil Hugo Chávez als erster den direkten Kontakt aufgenommen hat und weil Venezuela in den Gesprächen vermittelt.

Eine solche Destabilisierungskampagne wird von der venezolanischen Regierung seit Monaten beklagt. Auch die Vorwürfe an die Opposition, einen Wirtschaftskrieg zu führen, gibt es seit mindestens Ende 2013. Wo bleiben die konkreten Gegenmaßnahmen?

In Venezuela ist es ständige Regierungspolitik, dass die Bevölkerung Zugang zu Lebensmitteln, zur Gesundheitsversorgung und anderem hat. Der Wirtschaftskrieg stützt sich auf die gesamte Produktions- und Verteilungskette, die in privater Hand ist. Dagegen hat der venezolanische Staat eigene Netzwerke aufgebaut, etwa die Handelsketten Mercal, PDVAL und Bicentenario, die die gesamte Bevölkerung erreichen. Die Waren des Grundbedarfs werden staatlich subventioniert und zu sehr günstigen Preisen an die Bevölkerung abgegeben. Das aber hat das Problem des Schmuggels verursacht. Präsident Maduro hat trotzdem entschieden, diese Preispolitik beizubehalten. Es ist besser, den Schmuggel zu bekämpfen, als durch Preiserhöhungen der Bevölkerung den Zugang zu Lebensmitteln zu erschweren. So gibt es überall Maßnahmen, und in Venezuela ist die Lage generell ruhig und normal. Das haben gerade auch die Karnevalstage gezeigt.

In der politischen Auseinandersetzung führen die offen verfassungswidrigen und illegalen Aktionen von bestimmten Teilen der Opposition inzwischen immer mehr zu einer großen Frustration der demokratisch gesinnten Regierungsgegner. Viele von ihnen spüren, dass diese Aktionen sie immer weiter von ihrem Ziel wegtreiben, die Regierung auf demokratischem Weg durch Wahlen abzulösen.

Präsident Maduro hat für die illegalen Manöver der Opposition direkt die USA verantwortlich gemacht. Sie selbst haben ja als Diplomat in Washington gewirkt – teilen Sie diese Einschätzung?

Wir haben nicht den geringsten Zweifel daran, dass die USA auf Druck der transnationalen Energiekonzerne die führende Rolle bei der Kampagne gegen Venezuela spielen. Dafür haben wir Beweise unterschiedlichster Art. Ich möchte nur daran erinnern, dass nach dem Putsch vom April 2002 bei der Vereidigung des Putschpräsidenten nur zwei Diplomaten anwesend waren: der Botschafter Spaniens – und der Botschafter der USA, der zu diesem Zeitpunkt Charles Shapiro war. Jeder, der irgendeine Aktion gegen unsere Regierung unternimmt – insbesondere, wenn er bis dahin angeblich auf unserer Seite gestanden hat –, wird sofort mit offenen Armen von den USA aufgenommen, bekommt Visa und alles. Wir haben also keine Zweifel über die Rolle der USA.

Erschienen am 20. Februar 2015 in der Tageszeitung junge Welt