Türsteher Europas

Im Schatten der dramatischen Ereignisse im Mittelmeer warten auch weiterhin Tausende Menschen im Norden Marokkos auf eine Gelegenheit, die Landgrenze zu den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla zu überwinden. Am Montag versuchten etwa 15 Menschen, über die massiven Sperranlagen nach Ceuta zu klettern. Als sie von marokkanischen Sicherheitskräften abgefangen wurden, stürzten sich einige von ihnen ins Meer, um den weit in das Wasser hineinreichenden Zaun zu umschwimmen. Sie wurden jedoch ebenfalls gestoppt. In der vergangenen Woche war es dagegen zwei jungen Männern einer Meldung der Nachrichtenagentur EFE zufolge gelungen, schwimmend nach Ceuta zu gelangen. Völlig entkräftet erreichten sie nach Stunden das Festland, wo sie medizinisch betreut und in eines der Aufnahmezentren gebracht wurden. Sie hatten Glück. Wie viele andere einen solchen Versuch nicht überleben, weiß niemand. Der mit messerscharfem Stacheldraht ausgestattete Sperrzaun bietet kaum eine Gelegenheit, sich zum Ausruhen festzuhalten.

Die Landgrenze zwischen Marokko und den spanischen Territorien ist in den vergangenen Jahren auch mit EU-Geldern massiv aufgerüstet worden, um jedes Überwinden der Sperranlagen zu verhindern. Trotzdem warten nach Schätzungen bis zu 80.000 Menschen in den Bergen nahe der beiden Kolonialgebiete auf eine Gelegenheit, die Grenze zu überwinden. Ihre Chancen sind gering. Nur einzelne schaffen es immer wieder, versteckt in Fahrzeugen oder verkleidet über die regulären Grenzübergänge zu kommen. Am vergangenen Wochenende gelang es drei Flüchtlingen, getarnt als Fischer mit einem Boot Ceuta zu erreichen. Während sie sich am Strand den spanischen Grenzsoldaten stellten, flüchtete ein vierter Mann mit dem Boot auf die offene See. Ihm hätte als »Schlepper« Gefängnis gedroht. Andere werden schon weit vorher von der marokkanischen Polizei abgefangen. Ihnen drohen dann nicht nur Misshandlungen. Immer wieder gibt es Berichte, dass die Menschen mitten in der Wüste ausgesetzt werden. So berichteten Menschenrechtsgruppen im Februar über eine Razzia der marokkanischen Behörden in einem der illegalen Lager bei Melilla. Die Habseligkeiten der Menschen wurden verbrannt, Hunderte Flüchtlinge in Busse gesetzt und an die südöstliche Grenze des nordafrikanischen Landes gebracht. Wohin sie abgeschoben wurden, ist nicht bekannt.

Doch auch die wenigen, die es über die Grenzanlagen schaffen, sind dann noch nicht in Sicherheit. Anfang April legalisierte das Parlament in Madrid die bislang rechtswidrige Praxis der paramilitärischen Guardia Civil, Flüchtlinge direkt den marokkanischen Behörden zu übergeben, ohne dass die Menschen Asyl beantragen können. Im Rahmen des »Maulkorbgesetzes«, das auch die Demonstrationsfreiheit in Spanien drastisch einschränkt, wurde festgelegt, dass solche Anträge nur noch an den offiziellen Grenzübergängen gestellt werden dürfen. Doch der Weg zu diesen Durchgangsstellen ist schon auf der marokkanischen Seite versperrt.

Für Menschen, die vor Krieg, Elend und Perspektivlosigkeit nach Europa fliehen wollen, sind so alle legalen Wege versperrt. Deshalb wagen Zehntausende die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer. Hunderte von ihnen haben diesen Versuch allein in den vergangenen Wochen mit ihrem Leben bezahlen müssen. Die aufgeschreckten EU-Politiker übten sich in pflichtgemäßer Betroffenheit. Dann einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Union bei ihrem Gipfeltreffen am vergangenen Donnerstag in Brüssel auf einen weiteren Ausbau der Grenzschutzmission »Triton«, deren Aufgabe die Abwehr und nicht die Rettung von Menschen ist. Die EU ziehe somit einen weiteren Wall um die Festung Europa, kritisierte Günter Burkhardt von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. Die EU wolle die Staaten Nordafrikas zu »Türstehern Europas« machen, damit die menschlichen Dramen auf der reichen Seite des Mittelmeers nicht mehr gesehen werden. »Das Sterben geht weiter, aber außerhalb des Sichtfelds der europäischen Öffentlichkeit.«

Erschienen am 30. April 2015 in der Tageszeitung junge Welt