Tradition gegen Menschenrechte

Das Recht der indigenen Gemeinden Ecuadors, ihre traditionelle Rechtsprechung auszuüben, ist für die Regierung des südamerikanischen Landes in den vergangenen Tagen zu einem ihrer wichtigsten Probleme geworden, nachdem am vergangenen Sonntag eine Versammlung von rund 1500 Indígenas in der Gemeinde La Cocha einen mutmaßlichen Mörder zum Tode verurteilt hatte. Orlando Quishpe soll gemeinsam mit einer Gruppe junger Männer bei einem Dorffest Anfang Mai einen 22 Jahre alten Mann brutal zusammengeschlagen und anschließend erhängt haben. Während die Mittäter von der Versammlung mit Stockschlägen bestraft wurden, soll der Haupttäter nun auf die selbe Weise sterben, wie sein Opfer. Die Indígenas berufen sich dabei auf die 2008 verabschiedete Verfassung Ecuadors, die den indigenen Gemeinden das Recht einräumt, entsprechend ihrer Traditionen Recht zu sprechen. Allerdings heißt es in Artikel 171 des ecuadorianischen Grundgesetzes auch, daß verhängte Strafen nicht der Verfassung des Landes oder internationalen Menschenrechtsvereinbarungen widersprechen dürfen. Die Todesstrafe ist in Artikel 66 ausdrücklich ausgeschlossen. Ecuadors Präsident Rafael Correa unterstrich deshalb am Donnerstag noch einmal, daß die indigene Justiz nicht über den Gesetzen des Landes stehe.

Die unterschiedlichen Interessen der indigenen Gemeinden und der Behörden werden zunehmend zu einer Belastung für Ecuadors Regierung. Erst in der vergangenen Woche hatte die starke Indígena-Organisation CONAIE eine Serie von Demonstrationen und Straßenblockaden beendet, mit der sie gegen die geplante Verabschiedung eines Gesetzes über die Wasserreserven des Landes protestierte. Sie warf der Regierung vor, durch dieses Gesetz die Naturressourcen des Landes privatisieren zu wollen, was von der Exekutive jedoch entschieden bestritten wurde. Präsident Correa verteidigte das Projekt mit den Worten, sein Kabinett könne nicht nur die Interessen der Indígenas wahrnehmen, sondern müsse auch die Gesamtentwicklung des Landes im Auge behalten. Nachdem sich im Parlament aber eine mehrheitliche Ablehnung des Projektes abzeichnete, setzte Parlamentspräsident Fernando Cordero gegen den Widerstand zahlreicher Abgeordneter die parlamentarischen Beratungen für fünf Monate aus und ordnete eine Befragung der indigenen Gemeinden zu diesem Thema an. Dabei handele es sich um einen »Verfassungsauftrag, der erfüllt werden muß«, unterstützte Correa den Parlamentspräsidenten. Auch die CONAIE begrüßte die Befragung, forderte jedoch, daß deren Ergebnisse rechtlich verbindlich sein müßten. »Die Befragung ist ein Recht und keine Möglichkeit der Regierung, um abzulenken«, unterstrich die CONAIE-Sprecherin und frühere Informationsministerin Mónica Chuji, die lange als enge Vertraute Correas galt, bis sie im September 2008 aus der Regierungspartei PAIS austrat und ihr »konservative und reaktionäre Positionen« vorwarf.

Erschienen am 22. Mai 2010 in der Tageszeitung junge Welt und am 28. Mai 2010 in der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek