junge Welt, 21. August 2015

Todeszone durch Europa

junge Welt, 21. August 2015Würde heute in Frankreich ein neues Staatsoberhaupt gewählt, hätte Marine Le Pen mit ihren Neofaschisten gute Chancen, die Abstimmung zu gewinnen. Umfragen sehen sie mit um die 30 Prozent auf dem ersten oder zweiten Platz, ein Sieg in der Stichwahl scheint nicht mehr ausgeschlossen. Auch in Schweden nimmt der Einfluss der Rassisten weiter zu. Die »Schwedenpartei« wurde in einer am Donnerstag von der Tageszeitung Metro veröffentlichten Umfrage erstmals stärkste Kraft.

Die »demokratischen« Politiker reagieren auf die Gefahr von rechts einmal mehr mit der Übernahme neofaschistischer und rassistischer Parolen. So erklärte der Sprecher des slowakischen Innenministeriums, Ivan Metik, im Gespräch mit der britischen BBC, Bratislava werde in den kommenden Jahren nur Christen aufnehmen, muslimische Migranten würden nicht akzeptiert. Ähnliche Töne kommen aus Lettland, Estland und Polen. Der ungarische Staatspräsident János Áder bezeichnete durch sein Land reisende Flüchtlinge als »Belagerer« und sprach von einer neuen »Völkerwanderung«. Diese Formulierung wählte auch CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer, um gegen »massenhaften Asylmissbrauch« zu hetzen.

In Calais unterzeichneten der französische Innenminister Bernard Cazeneuve und seine britische Amtskollegin Theresa May am Donnerstag ein Abkommen, um die Grenze zwischen beiden Ländern noch mehr abzuschotten. Ein gemeinsames Kommando- und Kontrollzentrum soll die Jagd auf Flüchtlinge koordinieren, die versuchen, durch den Eurotunnel auf die Insel zu kommen. Schon jetzt sollen hohe Zäune und Stacheldraht sowie schwerbewaffnete Polizisten die Menschen abschrecken. Mazedonien verhängte am Donnerstag den Ausnahmezustand über zwei Regionen. 4.000 im Grenzgebiet zwischen dem Balkanstaat und Griechenland festsitzende Menschen blockierten die Bahnstrecke von Thessaloniki nach Skopje. Ungarn errichtet einen 175 Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Serbien.

Dort herrschen bereits jetzt menschenunwürdige Zustände. Seit rund drei Monaten dient der Platz vor dem Hauptbahnhof von Belgrad als notdürftiges Lager von Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Einige der Familien haben Zelte gespendet bekommen, andere campieren unter freiem Himmel oder in einem Parkhaus. Ihre Kinder und Babys können sie nur schlecht und recht mit Nahrung versorgen.

Am Mittwoch besuchte Serbiens Premierminister Aleksandar Vucic den Platz. Rechtzeitig wurden die Grünanlagen gereinigt, um sie vom Gestank zu befreien. Vor der europäischen Presse versprach Vucic Besserung. Nur Stunden später setzte starker Regen ein. Die rund 2.000 Menschen, unter ihnen Kinder und alte Leute, retteten sich in den nahen Bahnhof und in ein Parkhaus und versuchten, unter einer Überdachung ihre Kleidung zu trocken. Auch am Donnerstag war die Lage kaum besser. Die Zahl der Toilettenkabinen ist verdoppelt worden, es wird öfter gereinigt. Aber feste Sanitäranlagen, ärztliche Hilfe oder Verpflegung gibt es weiter nicht für die Menschen.

So zieht sich ein Todesstreifen mitten durch Europa. Zugleich versuchen die EU-Staaten weiter, die vor Krieg und Elend fliehenden Menschen an den Außengrenzen auszusperren. Noch immer sterben Flüchtlinge bei der Fahrt über das Mittelmeer oder an den Sperranlagen um Ceuta und Melilla, die spanischen Exklaven in Nordafrika. Die Festung Europa tötet.

Verfasst gemeinsam mit Andre Wokittel, Belgrad
Erschienen am 21. August 2015 in der Tageszeitung junge Welt