Tausende Tote

Fast 2000 Menschen sind seit Jahresbeginn bei dem Versuch ums Leben gekommen, über das Mittelmeer Europa zu erreichen. Allein seit Juni ertranken rund 1600 Personen. Diese dramatischen Zahlen veröffentlichte die Sprecherin des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR), Melissa Fleming, diese Woche in Genf. Allein innerhalb der vergangenen acht Tage starben demnach mehr als 300 Menschen, die meisten von ihnen am Freitag vergangener Woche, als ein mindestens 270 Passagiere beförderndes Boot vor der libyschen Küste kenterte. Nur 19 Personen konnten von den libyschen Behörden gerettet werden, die Leichen von 100 Menschen wurden aus dem Wasser geborgen oder an das Ufer geschwemmt. Von allen übrigen fehlt jede Spur – Hoffnung darauf, daß sie das Unglück überlebt haben, gibt es praktisch keine.

 

Nur Stunden später rettete die italienische Küstenwache 73 Menschen aus einem beschädigten Schlauchboot, das 20 Seemeilen außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer trieb. 18 Flüchtlinge konnten nur noch tot geborgen werden, weitere zehn wurden nach Angaben des UNHCR noch vermißt. Am Sonntag kenterte ein Fischerboot mit 400 Menschen an Bord. Die italienischen Behörden retteten 364 von ihnen. Tot geborgen wurden 24 Menschen, aber es wird befürchtet, daß auch hier die reale Zahl der Opfer noch höher liegt.

Für die Verzweifelten, die vor Krieg, Hunger und Elend vor allem aus Mali, Côte d’Ivoire, Guinea und dem Sudan fliehen, hat sich die libysche Küste zum wichtigsten Ausgangspunkt entwickelt, um die Überfahrt nach Europa zu wagen. Durch die sich in dem nordafrikanischen Land immer weiter verschlechternde Sicherheitslage greifen viele der Abwehrmaßnahmen nicht mehr, die die EU einst mit dem damaligen libyschen Staatschef Muammar Al-Ghaddafi per »Rücknahmeabkommen« vereinbart hatte. Heute erreichen das Büro des UNHCR in Tripolis täglich Anrufe von Flüchtlingen, die um ihr Leben fürchten und verzweifelt um Essen, Trinkwasser, Medikamente und Unterbringung bitten, informierte Fleming. Andere wagen mangels anderer Alternativen die lebensgefährliche Überfahrt nach Europa, wo sie – so die UNHCR-Sprecherin – weitere Gewalt und Verfolgungen erwarten. »Diese dramatische Lage an Europas Seegrenzen erfordert schnelles und konzertiertes europäisches Handeln, einschließlich verstärkter Such- und Rettungsoperationen im Mittelmeer, die gewährleisten, daß die Rettungsmethoden sicher sind und das geringste Risiko für diejenigen bedeuten, die gerettet werden.« Damit spielte Fleming auf Aussagen von Überlebenden an, die berichteten, wie europäische Grenzschützer die Schutzsuchenden zurück an die afrikanische Küste treiben.

Die Europäische Union will ihre Abschottung jedoch offenbar weiter verschärfen. Am Mittwoch teilten EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström und der italienische Innenminister Angelino Alfano in Brüssel mit, Roms Rettungsprogramm »Mare Nostrum« werde von einer Ausweitung des EU-Grenzschutzprogramms Frontex abgelöst. Die Details von »Frontex plus« müßten bis November festgelegt werden, erklärte Malmström. Nach Informationen der taz vom Freitag sollen die Patrouillen jedoch nur noch in den EU-Hoheitsgewässern durchgeführt werden, also nur maximal zwölf Seemeilen (gut 22 Kilometer) von der europäischen Küste entfernt. Wenn die Menschen diese Zone erreichen, haben sie schon Hunderte Kilometer auf hoher See hinter sich bringen müssen. Die direkte Entfernung etwa vom libyschen Bengasi, von wo derzeit die meisten Flüchtlinge in See stechen, zur Südküste Kretas beträgt über 500 Kilometer. Selbst die theoretisch kürzeste Strecke vom libyschen Derna zu der griechischen Insel ist 340 Kilometer lang. Auch wer von der tunesischen Küste startet und die italienische Insel Lampedusa ansteuert, muß 140 Kilometer überwinden. Weitere Todesopfer sind so unvermeidlich.

Erschienen am 30. August 2014 in der Tageszeitung junge Welt