Für sie ist die monatelange Flucht endlich zu Ende: Tausende Menschen sind am Wochenende aus Ungarn kommend in Süddeutschland eingetroffen. Allein am Sonntag rechneten die Behörden in München mit etwa 5.000 Ankommenden. Zuvor hatten sich Wien und Berlin bereit erklärt, die zum größten Teil aus Syrien, dem Irak und Afghanistan stammenden Flüchtlinge einreisen zu lassen. Tagelang hatten diese zuvor am Bahnhof von Budapest ausgeharrt, um ihre Weiterreise nach Deutschland zu erzwingen. Am Freitag hatten sich dann Hunderte von ihnen zu Fuß auf den 200 Kilometer langen Weg zur österreichischen Grenze gemacht. Eine von den ungarischen Behörden versuchte Internierung hatten die Schutzsuchenden verweigert. »Habe ich den ganzen Weg aus Syrien hinter mich gebracht, damit ich hier in ein Lager gesteckt werde?« fragte ein Mann aus der syrischen Stadt Daraa verzweifelt eine Reporterin des spanischen Internetportals eldiario.es. In der Nacht zum Samstag einigten sich die Regierungen von Österreich, Ungarn und Deutschland dann auf die humanitäre Lösung, die Menschen in Bussen und Sonderzügen über Wien nach München kommen zu lassen, von wo sie auf die verschiedenen Bundesländer verteilt werden sollen.
Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hat die Entscheidung der Bundesregierung zur Einreise der Flüchtlinge als einen »großartigen Akt der Humanität« begrüßt. Ihr Geschäftsführer Günter Burkhardt äußerte zugleich Verständnis dafür, dass viele der nach Europa kommenden Menschen die Bundesrepublik erreichen wollen. Hier lebten europaweit die meisten Syrer, Afghanen und Iraker. Die Menschen gingen dorthin, wo sie Anknüpfungspunkte hätten.
Demgegenüber verbreiteten vor allem führende CSU-Politiker wieder Stammtischparolen. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer wetterte am Sonntag ohne Rücksicht auf die Fakten, Deutschland könne nicht »auf Dauer bei 28 EU-Mitgliedsstaaten beinahe sämtliche Flüchtlinge aufnehmen«. Bereits in der vergangenen Woche hatte seine Europaministerin Beate Merk bei einem Besuch in Belgrad die serbische Regierung aufgefordert, ihre Bürger nicht mehr frei ausreisen zu lassen: »Ein Land, das Mitglied der EU werden will, kann nicht zusehen, dass so viele Menschen das Land verlassen und behaupten, dass sie in ihrer Heimat politisch verfolgt werden.« Menschenverachtend äußerten sich auch die Spitzenleute der AfD-Abspaltung »Allianz für Fortschritt und Aufbruch« (Alfa). Ihr Vizechef Bernd Kölmel forderte, dass Marineeinheiten im Mittelmeer Jagd auf Flüchtlingsboote machen und diese »zurückweisen« sollten. Das unterscheidet sich praktisch nicht von den Schlagworten der konkurrierenden AfD über den »Asylansturm in Deutschland und den europäischen Nachbarländern«.
Außerhalb Europas wird der Umgang der EU mit den Flüchtlingen inzwischen kopfschüttelnd beobachtet. »Wir im Iran haben damals Millionen von Afghanen aufgenommen, nun haben einige Länder Probleme mit der Aufnahme von einer kleinen Anzahl von Menschen in höchster Not«, sagte am Sonntag etwa Teherans Außenminister Mohammed Dschawad Sarif. Bei einer Pressekonferenz warf er dem Westen und einigen Ländern der Region vor, in Syrien den Weg für Gewalt, Krieg und besonders den Vormarsch der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) freigemacht zu haben. Die jetzige Tragödie um die Flüchtlinge zeige, dass diese Politik niemandem in der Welt genützt habe.
Erschienen am 7. September 2015 in der Tageszeitung junge Welt