Streit um Préval

Vier Monate nach dem verheerenden Erdbeben vom 12. Januar kämpfen Hunderttausende Menschen in Haiti noch immer um das nackte Überleben. Die Mehrheit der rund 1,5 Millionen Einwohner, die bei der Naturkatastrophe obdachlos geworden sind, lebt bis heute in provisorischen Notunterkünften in der Hauptstadt Port-au-Prince und ihrer Umgebung. Unterdessen streiten sich Regierung und Opposition um den Termin für die bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und um die Amtszeit von Staatschef René Préval.

Am Montag (Ortszeit) ging die Polizei mit Tränengas gegen eine Demonstration von rund 2000 Menschen vor, die dem Staatspräsidenten vorwarfen, die Wahl eines Nachfolgers möglichst lange hinauszögern zu wollen, um selbst im Amt bleiben zu können. Tatsächlich hatte der haitianische Senat am selben Tag mit 14 gegen zwei Stimmen bei sieben Enthaltungen einer Verlängerung von Prévals Amtszeit bis zum 14. Mai 2011 zugestimmt, sollte die Durchführung der für Ende November vorgesehenen Wahl nicht möglich sein. Eigentlich müßte Préval der haitianischen Verfassung zufolge sein Amt bereits am 7. Februar 2011 abgeben. Dieser verteidigte die dreimonatige Mandatsverlängerung jedoch mit dem Argument, ein Machtvakuum verhindern zu müssen. Zugleich betonte er, »auf keinen Fall länger als die verfassungsmäßig vorgesehenen fünf Jahre« im Amt zu bleiben. Diese laufen an eben jenem 14. Mai ab. 2006 hatte Préval an diesem Tag als Wahlsieger die Regierung von einem provisorischen Regime übernommen, das Haiti seit dem Sturz von Staatschef Jean Bertrand Aristide zwei Jahre zuvor regiert hatte.

Durch das Erdbeben vom Januar, das offiziell 220000 Menschenleben gefordert hat, wurde die ohnehin schwache Infrastruktur Haitis völlig zerstört. Auch das Gebäude der Wahlkommission stürzte ein, dabei gingen die Akten von 1,6 Millionen Wahlberechtigten verloren. Die ursprünglich für den vergangenen Februar vorgesehenen Parlamentswahlen waren bereits kurz nach der Katastrophe abgesagt worden. Dadurch verfügt Haiti jetzt auch über kein legitimiertes Parlament mehr. Am Dienstag lief das Mandat der 99 Parlamentarier des Unterhauses ebenso ab wie die Amtszeit von einem Drittel der 29 Senatoren.

Ohnehin sorgt der nur schleppend verlaufende Wiederaufbau des Landes zunehmend für Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Bereits Ende April demonstrierten Hunderte Schüler dafür, daß ihre Schulen nicht mehr als Notunterkünfte für Obdachlose genutzt werden. »Wir fordern die Wiederaufnahme des Unterrichts«, riefen sie vor dem Bildungsministerium in Port-au-Prince. Bei dem Beben waren 4000 Schulen zerstört worden. Erst Anfang April konnte in einigen Schulen der Unterricht wieder aufgenommen worden, nachdem provisorische Klassenzimmer eingerichtet wurden.

Vor diesem Hintergrund kritisieren viele Haitianer den gegenwärtigen Streit um Wahlen. Regierung und Opposition sollten lieber ihre Kräfte vereinen, um den Wiederaufbau von Wohnhäusern zu beschleunigen und Arbeitsplätze für die Haitianer zu schaffen, zitierte die kubanische Agentur Prensa Latina Einwohner der Hauptstadt. Das kurzfristige Aufstellen eines neuen Wählerverzeichnisses sei viel zu teuer und könnte auch nicht so transparent erfolgen, daß es anschließend keine Zweifel an der Legitimität eventueller Wahlen gäbe, hieß es.

Erschienen am 12. Mai 2010 in der Tageszeitung junge Welt und am 15. Mai 2010 in der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek