Strafbarer Journalismus

Der Argentinier Carlos Aznárez gehört zu den bekanntesten Journalisten Lateinamerikas. Er leitet Resumen Latinoamericano, einen Informationsdienst, der eine monatliche Zeitschrift herausgibt, ein Fernseh- und ein Radioprogramm betreibt sowie täglich per E-Mail einen umfangreichen Newsletter verbreitet. Das Spektrum der behandelten Themen umfasst dabei nicht nur – wie der Name nahelegen würde – Nachrichten aus Lateinamerika. Es wird auch über die Repression im Baskenland, die neuesten Entwicklungen in Syrien oder den Widerstand des palästinensischen Volkes informiert. Dabei wird eine klar linke und antiimperialistische Haltung deutlich, das Team scheut sich gegebenenfalls aber auch nicht, Stellungnahmen etwa der libanesischen Hisbollah oder der palästinensischen Hamas zu verbreiten.

Mit seiner Arbeit macht sich Aznárez nicht nur Freunde. Ende Oktober erhielt er eine Nachricht vom Internetriesen Google. Demnach sei der Konzern durch einen Richter in Buenos Aires verpflichtet worden, der Justiz Zugriff auf sein E-Mail-Konto zu geben. Hintergrund dieser Entscheidung ist nach Angaben des Journalisten eine Klage der »Delegation Argentinischer Israelitischer Verbände« (DAIA), einem Zusammenschluss von rund 140 jüdischen Einrichtungen in dem südamerikanischen Land. Dieser werfe ihm »diskriminierende Propaganda« vor, konkret die Verbreitung antisemitischer Hetze. Dabei geht es offenbar um die von Aznárez während des Gaza-Krieges im Sommer 2014 geleistete Solidarität mit den Palästinensern. Er hatte über die damaligen Ereignisse berichtet und sowohl in seinen eigenen Medien als auch bei internationalen Fernsehsendern wie dem russischen RT, dem iranischen ­Hispan TV oder dem lateinamerikanischen ALBA TV kommentierend dazu Stellung genommen. »Schon die Tatsache, dass ich zusammen mit anderen Argentinierinnen und Argentiniern dort vor Ort war und detailliert beschrieben habe, was in Gaza und dem gesamten palästinensischen Gebiet passierte, scheint für meine Ankläger, die mir den Prozess machen wollen, ein Vergehen zu sein,« kommentierte Aznárez gegenüber dem alternativen US-Rundfunksender Radio Miami. Er habe erst durch die Mail von Google über das gegen ihn bereits im Dezember 2014 eingeleitete Verfahren erfahren. Erst auf Druck seiner Anwälte sei ihm anschließend die Anzeige ausgehändigt worden. »Wenn mich Google nicht angeschrieben hätte, hätte ich davon erst erfahren, wenn sie mich vor Gericht gestellt hätten«, so Aznárez in dem Interview. Ihm droht dem Vernehmen nach eine Haftstrafe

Während die DAIA sich auf ihrer Homepage nicht zu der Klage äußert und auch die führenden argentinischen Tageszeitungen bislang nicht über den Fall berichteten, hat der Angriff auf die Pressefreiheit sowie die Verletzung des Briefgeheimnisses bei einem Journalisten durch Google in Lateinamerika für einen Aufschrei der Empörung gesorgt. In einem inzwischen von mehreren tausend Menschen in aller Welt unterstützten Aufruf fordern unter anderem Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel, die »Mütter der Plaza de Mayo« – Angehörige der unter der argentinischen Militärdiktatur »Verschwundenen« –, Menschenrechtsanwälte und Gewerkschafter die Einstellung des Verfahrens. In derselben Weise äußerten sich auch der kubanische Liedermacher Silvio Rodríguez und der frühere nicaraguanische Außenminister Miguel d’Escoto, der 2008/2009 Präsident der UN-Vollversammlung war.

Erschienen am 13. November 2015 in der Tageszeitung junge Welt