junge Welt, 16. April 2015

Spiel mit Menschenleben

junge Welt, 16. April 2015Wieder haben Hunderte Menschen den Versuch, in Europa Schutz vor Elend und Krieg zu finden, mit ihrem Leben bezahlen müssen. Wie die Menschenrechtsorganisation »Save the Children« am Mittwoch informierte, ertranken am Wochenende wahrscheinlich mindestens 400 Menschen vor der libyschen Küste im Mittelmeer. An Bord ihres in Seenot geratenen Bootes waren 550 Personen — unter ihnen viele Kinder —, von denen nur 150 von der italienischen Küstenwache gerettet werden konnten. Damit ist die Zahl der allein seit Jahresbeginn an den Außengrenzen der EU getöteten Menschen auf mindestens 900 gestiegen. Schon Ende März hatte die Internationale Organisation für Migration von mindestens 500 Todesopfern gesprochen. Das ist eine Verzehnfachung gegenüber dem ersten Quartal 2014, als 46 Menschen ums Leben kamen. Für das gesamte vergangene Jahr wurde die Zahl der Getöteten mit 3.000 angegeben. Wie hoch die Dunkelziffer ist, weiß niemand.

In Berlin rettete sich Regierungssprecher Steffen Seibert nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa in Ausflüchte. Das Thema sei »komplex«. Die Länder, aus denen die Flüchtlinge aufbrechen, müssten die Schlepperkriminalität besser bekämpfen. Den afrikanischen Heimatländern müsse geholfen werden, damit die Menschen eine Perspektive zum Bleiben haben.

Tatsächlich aber ist gerade die EU-Politik mitverantwortlich für die Tragödien. 2011 intervenierte die NATO mit Bombenangriffen in Libyen und trug so entscheidend zum Sturz des langjährigen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi bei. Seither ist das nordafrikanische Land in Chaos und Bürgerkrieg versunken und hat viele Nachbarländer mit sich in den Abgrund gerissen. Hunderttausende Menschen fliehen auch aus Kriegsgebieten wie Syrien, wo die westlichen Mächte im Bunde mit den Golfmonarchien seit Jahren Öl ins Feuer gießen. Den davor fliehenden Menschen haben die europäischen Staaten nahezu alle rechtmäßigen Möglichkeiten verschlossen, hier Schutz zu finden. So müssen Tausende versuchen, illegal in die EU zu gelangen.

»Der Schutz und die Rettung dieser Menschen muss für Italien und Europa höchste Priorität sein«, fordert Kathrin Wieland von »Save the Children«. Die EU müsse mehr Kapazitäten bereitstellen, um die Suche nach Flüchtlingen und deren Rettung auszuweiten. Tatsächlich jedoch musste Italien seine Hilfsmission »Mare Nostrum« im vergangenen Jahr einstellen, nachdem die übrigen EU-Staaten sich geweigert hatten, Mitverantwortung zu übernehmen. Statt dessen wurde ab November unter der Führung der EU-Grenzagentur Frontex die »Operation Triton« gestartet, die mehr der Abwehr der Schutzsuchenden als ihrer Rettung dient. »Die Scharfmacher unter den europäischen Innenministern, wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière, sahen die Seenotrettung ohnehin nicht als humanitäre Pflicht der EU, sondern als Bedrohung für die Sicherheit der Außengrenzen«, kritisiert die linke Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke.

Als ein solcher Scharfmacher zeigte sich am Mittwoch CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder. Gegenüber Bild spielte er zynisch Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber gegeneinander aus: »Wenn die Länder weitere Mittel wollen, müssen auch sie ihre Anstrengungen erhöhen und zum Beispiel mehr abgelehnte Asylbewerber abschieben.« Als eine »Abschiebeprämie« für die Bundesländer bewertete das Jelpke. Eine solche Haltung sei »geschmacklos und perfide«.

Erschienen am 16. April 2015 in der Tageszeitung junge Welt