Sozialismus als Ziel

Der Ort und der Anlass waren kein Zufall: Am 30. Januar 2005 war der damalige venezolanische Präsident Hugo Chávez Stargast des Weltsozialforums im brasilianischen Porto Alegre. Dort hatten sich insgesamt rund 200.000 Menschen versammelt, um über den Widerstand gegen den neoliberalen Kapitalismus zu diskutieren. 15.000 von ihnen füllten an jenem Abend das Gimnasio Gigantinho, um den zu diesem Zeitpunkt in Lateinamerika schon legendären Staatschef zu hören. Und Chávez hatte eine Überraschung vorbereitet: Zum ersten Mal nahm er das böse Wort in den Mund, das seit 1989/90 aus der Mode gekommen war. Nachdem er über die bildungspolitischen Maßnahmen seiner Regierung gesprochen und unterstrichen hatte, dass die Privatisierung von Hochschulen oder der Gesundheitsversorgung eine Verletzung der grundlegenden Menschenrechte sei, erklärte er: »Wir und viele Intellektuelle der Welt sagen, dass es notwendig ist, den Kapitalismus zu überwinden. Ich füge aber hinzu: Der Kapitalismus wird nicht innerhalb der Kapitalismus überwunden werden können. Der Kapitalismus muss auf dem Weg des Sozialismus überwunden werden!« Jubel auf den Rängen, auch wenn vielen der Zuhörer in diesem Augenblick kaum bewusst war, dass Chávez gerade Geschichte geschrieben hatte: Abgesehen von den Staatschefs der Länder, die nach 1990 an einem sozialistischen Entwicklungsweg festgehalten hatten, war er der erste Präsident weltweit, der den Aufbau des Sozialismus wieder auf die Tagesordnung setzte.

Anfangs mit Illusionen

Chávez hatte sich offenkundig genau überlegt, wann und wo er diesen Tabubruch begehen würde. Seine politische Linie hatte er in den Jahren zuvor immer weiter radikalisiert, oft als Reaktion auf Angriffe seiner Gegner. So hatte er 2004 bei einer Großkundgebung in Caracas die »antiimperialistische Phase« der Revolution proklamiert, nachdem eine Gruppe von 150 Paramilitärs aus Kolumbien ausgehoben worden war, die nahe der Hauptstadt einen Stützpunkt errichtet hatten. Für den venezolanischen Präsidenten war das ein Beweis für die Machenschaften des Imperialismus. Den Versammelten rief er zu, es habe seit dem Fall der Berliner Mauer »bis in linke Zirkel hinein« Angst davor geherrscht, diesen Begriff zu verwenden: »Fast niemand traute sich mehr, vom Kapitalismus und noch weniger vom Imperialismus zu sprechen!« Statt dessen habe man sich Illusionen von einem »menschlicheren Kapitalismus« hingegeben.

Zu denen, die solche Illusionen hegten, hatte auch Chávez selbst gehört. Im Wahlkampf 1998 sprach er sich für einen »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Kommunismus aus und nannte den damaligen US-Präsidenten William Clinton sowie den britischen Premier Anthony Blair als politische Vorbilder. »Weder rechts noch links« sei er und »weder Marxist noch Antimarxist«. In seiner Wahlpartei »Bewegung Fünfte Republik« herrschte damals die Vorstellung vor, man müsse nur die Regierung übernehmen und einige Gesetze ändern, dann werde schon alles besser werden. Der zentrale Punkt, der den »Patriotischen Pol« um Chávez zusammenhielt, war die angestrebte Verfassunggebende Versammlung, die dann nach dem Wahlsieg 1999 installiert wurde und ein wegweisendes Grundgesetz ausarbeitete. Doch in dem Moment, als es um die Umsetzung der darin enthaltenen Vorgaben ging, stieß die neue Regierung auf Widerstand von Unternehmern, rechten Gewerkschaften und den von der Opposition kontrollierten Medien. Auch im eigenen Lager zeigten sich erste Risse. Als Ende 2001 49 Gesetze verabschiedet wurden, die über reine Symbolik hinausgingen und etwa eine Bodenreform zum Ziel hatten, erklärte Innenminister Luis Miquilena seinen Rücktritt. Der aus der alten venezolanischen Linken stammende Politiker hatte sich in den Monaten zuvor für Zugeständnisse an die geschwächte Opposition und für eine vorsichtigere Politik ausgesprochen. Chávez dagegen machte deutlich, dass er kein Mann taktischer Zurückhaltung war und wurde dabei von denen unterstützt, die sich für eine echte Revolution in Venezuela einsetzten.

2005 waren die Fronten geklärt. Die Opposition und rechte Militärs hatten im April 2002 versucht, den Präsidenten aus dem Amt zu putschen. Einige Monate später riefen sie einen »Generalstreik« aus, der die Erdölindustrie des Landes lahmlegen und so die Regierung ökonomisch erdrosseln sollte. Chávez reagierte auf all diese Angriffe ohne radikale Zuspitzungen, doch er zog offensichtlich Schlussfolgerungen: Wenn die Rechten schon bei vorsichtigen Reformen vor dem »Kommunismus« warnen und zum Staatsstreich griffen, dann gab es keinen Grund, die eigene Linie zu mäßigen. Doch der von der gesamten lateinamerikanischen Linken unterstützte »Comandante« war sich auch bewusst, dass er nicht zu weit gehen durfte. Es war deshalb kein Zufall, dass er seine Sozialismus-Rede am 30. Januar 2005 nicht etwa bei einer Kundgebung in Caracas hielt, sondern im Ausland, in Brasilien. Aber seine Unterstützer in Venezuela griffen die neue Zielvorgabe begeistert auf. Als ein halbes Jahr später Tausende Jugendliche aus aller Welt zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten nach Caracas kamen, wurden sie auf Transparenten der Stadtverwaltung bereits mit dem Slogan begrüßt »Gemeinsam bauen wir den Sozialismus auf!«

Abwehrkämpfe

Als Chávez den sozialistischen Kurs proklamierte, war die bolivarische Bewegung in Venezuela auf dem Höhepunkt ihrer Stärke. 2004 war der Präsident siegreich aus einem von seinen Gegnern angestrengten Amtsenthebungsreferendum hervorgegangen. Ende 2005 boykottierte die Opposition die Parlamentswahlen und erreichte damit nur, dass die Legislative zu fast 100 Prozent aus Abgeordneten des Chávez-Lagers bestand. Doch diese Macht wurde nicht genutzt. 2010, zum Ende der Legislaturperiode, bilanzierte der Schriftsteller Luis Britto García im Gespräch mit junge Welt: »Die Nationalversammlung hätte in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe wichtiger Gesetze auf den Weg bringen müssen. Ich würde sogar sagen, die Parlamentarier hätten das Gesetzsystem eines sozialistischen Staates ausarbeiten müssen. Das ist nicht geschehen.« 2007 scheiterte auch der Versuch, durch eine Verfassungsreform sozialistische Bestimmungen in die Magna Charta einzuführen. Das schlecht vorbereitete und in sich widersprüchliche Paket aus Dutzenden Artikeln wurde im Referendum knapp abgelehnt. In seinem letzten Wahlkampf 2012 gestand Chávez offen ein, dass es noch nicht gelungen sei, in Venezuela den Sozialismus zu erreichen. Die Wirtschaftsordnung sei nach wie vor kapitalistisch. Das Wahlprogramm 2013–2019 sei der Wegweiser für den Übergang zum Sozialismus. Doch Chávez konnte es nicht mehr umsetzen, er starb am 5. März 2013. Sein Nachfolger Nicolás Maduro ist im Abwehrkampf gegen die Wirtschaftskrise und eine daraus Kraft saugende Opposition gefangen – große Fortschritte in Richtung auf das auch von ihm proklamierte Ziel Sozialismus sind derzeit nicht zu erkennen.

Historisch bleibt die Rede vom 30. Januar 2005 trotzdem, denn Chávez setzte als erster im 21. Jahrhundert den Sozialismus als einzige Alternative zum Kapitalismus wieder auf die weltweite Agenda.

Aus der Rede von Hugo Chávez am 30. Januar 2005

»Die Revolution bedeutet, neben vielen anderen Dingen, eine Beschleunigung von Prozessen, eine Beschleunigung und Vertiefung des Kurses zu einer Gesellschaft der Gleichen, in der es keine Ausgeschlossenen gibt. Der größte Teil dieser Jugendlichen hier hatte jahrelang auf ihre Universitätszulassung gewartet, konnten aber nicht in die Universitäten eintreten. Die Universitäten wurden privatisiert, das folgt dem neoliberalen Plan des Imperialismus. Die Gesundheitsversorgung wurde privatisiert, doch diese darf nicht privatisiert werden, denn sie ist ein fundamentales Menschenrecht. Gesundheit, Bildung, Wasserversorgung, Stromversorgung, die öffentlichen Dienstleistungen dürfen nicht der Gefräßigkeit des Privatkapitals ausgeliefert werden. Einem Volk seine Rechte zu verweigern, ist der Weg in die Grausamkeit. Der Kapitalismus ist die Grausamkeit. Ich bin jeden Tag mehr überzeugt davon: Auf der einen Seite steht der Kapitalismus, auf der anderen Seite der Sozialismus. Daran habe ich keinen Zweifel. Wir und viele Intellektuelle der Welt sagen, dass es notwendig ist, den Kapitalismus zu überwinden. Aber ich füge hinzu: Der Kapitalismus wird nicht innerhalb des Kapitalismus selbst überwunden werden können, nein. Der Kapitalismus muss auf dem Weg des Sozialismus überwunden werden. Der echte Sozialismus ist der Weg, auf dem das kapitalistische Modell überwunden werden muss – Gleichheit, Gerechtigkeit! (…) Ich bin auch davon überzeugt, dass es, wie Ignacio Ramonet sagte, möglich ist, in der Demokratie den Kapitalismus auf dem Weg des Sozialismus zu überwinden. In der Demokratie! Aber, aufgepasst, in was für einer Art von Demokratie? Es ist nicht die Demokratie, die uns Mister Superman aus Washington aufzwingen will, nein, das ist nicht die Demokratie.«

Erschienen am 31. Januar 2015 in der Tageszeitung junge Welt