Sonntagsreden

Das Gedenken an die Opfer des Faschismus ist 70 Jahre nach der Befreiung scheinbar zur Staatsdoktrin geworden. Nachdem es über Jahrzehnte kein Bundeskanzler für notwendig gehalten hatte, zu den Gedenkfeiern in Dachau und an anderen Orten der Naziverbrechen zu kommen, ehrten am Sonntag Angela Merkel und Horst Seehofer die von den Faschisten Ermordeten und die Überlebenden. Ein spätes, aber wichtiges Zeichen der Erinnerung.

Das offizielle deutsche Gedenken ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Am 1. Mai wurde in München aus Anlass des 70. Jahrestages der Befreiung der bayerischen Landeshauptstadt durch die US-Armee ein Dokumentationszentrum über die NS-Diktatur als »Lern- und Erinnerungsort« eingeweiht. Doch mit richterlicher Genehmigung konnten Neonazis während der Eröffnung in Hörweite ihre Parolen schreien und provozieren. Der Nazikollaborateur Stepan Bandera hat auf dem Münchner Friedhof noch immer ein Ehrengrab, das zur Pilgerstätte ukrainischer Rechter geworden ist. In Weimar sieht sich die Polizei nicht in der Lage, einen offenbar koordinierten und gezielten Überfall von Neonazis auf die Maikundgebung des DGB zu verhindern. Die bayerische Landesregierung versucht, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes die Gemeinnützigkeit zu entziehen, um sie finanziell zu erdrosseln. Begründet wird das damit, dass die NSU-Aufbauorganisation »Verfassungsschutz« die VVN-BdA als »linksextremistisch« einstuft. Antifaschisten, die sich den Aufmärschen von Neonazis entgegenstellen, werden verfolgt. Russischen Bürgern, die zum Gedenken an die Befreiung nach Berlin kommen wollen, wird die Einreise verweigert.

Wenn von der »gewachsenen Verantwortung Deutschlands in der Welt« die Rede ist, dann sind damit zumeist Einsätze der Bundeswehr im Ausland gemeint. Darauf wies Ernst Grube, stellvertretender Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau, am Sonntag bei der Gedenkveranstaltung in Hebertshausen hin.

Das ist der eigentliche Hintergrund des offiziellen Gedenkens dieser Tage. Die Bundesrepublik Deutschland versucht, sich als von der Geschichte geläuterte Macht zu präsentieren, die nun mit ruhigem Gewissen die eigenen Werte in alle Welt tragen kann. Berlin kritisiert die russische Regierung, weil diese am 9. Mai das Gedenken an den 70. Jahrestag des Kriegsendes »für eigene Zwecke instrumentalisiert«. Doch am selben Tag begeht die Bundeswehr mit einem großen Ball in Berlin den 60. Jahrestag ihrer Zugehörigkeit zur NATO. Keine Instrumentalisierung? Berlin hofiert trotz der Unterdrückung von Oppositionellen und trotz des Krieges im Donbass die Machthaber in Kiew – zum Jahrestag des Massakers in Odessa, das von den ukrainischen Behörden bis heute nicht aufgeklärt wurde, gab es aus der Bundesregierung kein Wort. Berlin verweigert sowjetischen Kriegsgefangenen bis heute die Anerkennung als NS-Opfer und lehnt Forderungen aus Griechenland nach Reparationen nach wie vor ab. Neonaziparteien wie NPD und »Die Rechte« sind noch immer legal, militante Neofaschisten werden sogar von den Geheimdiensten dieser Republik hochgepäppelt.

Auch deshalb müssen wir davon ausgehen, dass die herrschende Politik ihre Sonntagsreden schnell wieder vergessen wird, wenn die Feierlichkeiten vorbei sind. Den Kampf gegen die alten und neuen Faschisten wird uns niemand abnehmen.

Erschienen am 4. Mai 2015 in der Tageszeitung junge Welt