»Solidarität und Gerechtigkeit«

Gespräch mit Rodrigo Chaves, Botschafter der Bolivarischen Republik Venezuela in der Bundesrepublik Deutschland

Seit wenigen Tagen sind Sie Botschafter Venezuelas in Berlin. Wie würden Sie sich selbst vorstellen? Wer ist Rodrigo Chaves?

Rodrigo Chaves ist Chirurg, ein venezolanischer Arzt. Ich komme aus einer Familie von Akademikern – Medizinern und Historikern. Seit meiner Zeit als Universitätsstudent bin ich in den sozialen Kämpfen engagiert. Je mehr sich die sozialen, ökonomischen und politischen Realitäten Venezuelas in den 80er Jahren verschlechterten, desto aktiver wurde ich in meinem natürlichen Umfeld. 1989 kamen wir an einen Wendepunkt. Damals lösten die unmenschlichen Maßnahmen des Internationalen Währungsfonds in Lateinamerika und der Karibik eine schwere soziale Krise aus. In Venezuela war der Höhepunkt dieser Krise der Caracazo (Aufstand der Bevölkerung gegen die unerträglichen Lebensbedingungen im Februar 1989, Anm. d. Red.). Dieser hat dazu geführt, daß das politische System und die venezolanische Demokratie selbst jede Legitimation verloren. Die öffentlichen Einrichtungen waren nach 40 Jahren Dominanz der sozialdemokratischen und der sozialchristlichen Partei durch Korruption, Vetternwirtschaft und eine Armutsrate von mehr als 80 Prozent zerstört. Das führte zu der vom Comandante Hugo Chávez geleiteten zivil-militärischen Bewegung 1992 (versuchter Sturz des Präsidenten Carlos Andrés Pérez, Anm. d. Red.), die von zahlreichen Intellektuellen, Studenten und Politikern unseres Landes unterstützt wurde. Der Aufstand scheiterte, und sie mußten ins Gefängnis. 1994 wurden sie begnadigt und nahmen den politischen Kampf auf. Damals begann ich, an der Erarbeitung des gesundheitspolitischen Programms einer möglichen alternativen Regierung mitzuarbeiten.

1998 wurde Chávez zum Präsidenten gewählt, und ich wurde Mitglied seiner gesundheitspolitischen Arbeitsgruppe. Später arbeitete ich im Bildungsministerium, den sozialen Bewegungen und schließlich in den vergangenen neun Jahren als Botschafter und im Außenministerium.

In diesen Jahren war Venezuela Opfer internationaler Einmischung, mit der versucht wurde, andere Veränderungen als die vom venezolanischen Volk selbst angestrebten durchzusetzen. Ihr Ziel war, die alten sozialen und ökonomischen Eliten wieder einzusetzen. Diese hatten in der Zeit ihrer politischen Herrschaft große ökonomische Macht angehäuft. Auch die Kirchenführer, die sich von den einfachen Menschen vollkommen abgesondert und sich in den Dienst der Mächtigen in Venezuela gestellt hatten, sahen ihre Lage durch die neuen Prozesse verschlechtert.

Doch das Volk widersetzte sich friedlich der ausländischen Einmischung, die zu dieser Zeit von den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika und dem Königreich Spanien angeführt wurde, und die 2002 in einem Staatsstreich gipfelte, dem ein weiterer wirtschaftlicher Putschversuch und schließlich die Sabotage der Erdölindustrie folgten. Unter großen Opfern wurden diese Angriffe zurückgeschlagen.

2004 wurde ich Direktor des Büros des Präsidenten, später Botschafter in Italien und bei der Welternährungsorganisation FAO. Dann kehrte ich als Vizeaußenminister für Europa nach Caracas zurück, wurde dann Botschafter in der Hellenischen Republik und nun Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland.

Europa ist also zu einem Schwerpunkt Ihrer Arbeit geworden …

Wir erleben gerade einen für das Europa des 21. Jahrhunderts historischen Prozeß. In der Hellenischen Republik konnten wir diesen aus der Perspektive der europäischen Peripherie verfolgen und unsere Erfahrungen einbringen. In Deutschland wird nun die Zeit zeigen, wie weit wir die großen Erwartungen erfüllen können, die wir für die bilaterale und regionale Arbeit mitgebracht haben.

Trotzdem konnte man in den vergangenen Jahren den Eindruck gewinnen, daß Deutschland für Venezuela keine große Rolle spielt. Zwei Jahre lang war Venezuela hier nicht durch einen Botschafter vertreten, der letzte Besuch des Präsidenten Hugo Chávez liegt zwölf Jahre zurück …

Die Tatsache, daß wir hier zwei Jahre nicht auf Botschafterebene vertreten waren, hängt eng mit dem Tod unserer Botschafterin Blancanieve Portocarrero zusammen. Sie blieb trotz Krankheit auf ihrem Posten, und da war es ihr gegenüber, als Mensch, als Frau und als Kämpferin für Venezuela und das Leben, nur fair, sie auch bis zum Schluß auf diesem Posten zu belassen. Sie war eine große Kämpferin für die Menschenrechte und für den Prozeß, den Venezuela erlebt.

Aber Sie haben natürlich recht: Die Beziehungen nicht nur Venezuelas, sondern ganz Lateinamerikas mit Europa konzentrieren sich sehr stark auf die Länder lateinischen Ursprungs. Das hat natürlich historische Gründe. Wir haben uns nicht ausgesucht, wie die vergangenen mehr als 500 Jahre unter der Herrschaft des einen oder des anderen Imperiums verlaufen sind. Doch das ist Geschichte.

Venezuela ist heute ein Land mit sozialem Profil, wir sprechen vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wir wollen eine soziale Großmacht des Humanismus, der Solidarität, der Würde und des Rechts auf Selbstbestimmung der Völker, der sozialen Gerechtigkeit sein.

Sie haben die interessante Erfahrung gemacht, von Griechenland nach Deutschland, aus der Peripherie in das Zentrum der Europäischen Union, zu wechseln. Wie bewerten Sie dieses europäische Integrationsmodell?

Das Denken und die Lebensphilosophie der Gesellschaften im Norden und im Süden Europas unterscheiden sich spürbar. Das ist zu sehen im Verhältnis zur Arbeit, zur Familie, zur Ordnung, an der Art und Weise der Gesetzgebung, dem Beachten von Regeln, der Art, die Welt zu betrachten und wie der einzelne mit seiner Umgebung umgeht, an der Art solidarisch zu sein, sich gesellschaftlich zu verbinden, wie die Gefühle mit dem Rationalen verbunden werden. Mit anderen Worten: Es existieren große kulturelle Unterschiede, die weit über die Sprachenvielfalt hinausgehen. Das ist ganz anders als im Fall Hispanoamerikas, wo wir fast alle aus ähnlichen historischen Prozessen hervorgegangen sind und über eine gemeinsame Sprache verfügen.

Die Versuche Europas, einen annehmbaren Grad an Integration zu erreichen, sind ein langer Prozeß gewesen, in dem es offensichtliche Erfolge und Mißerfolge gegeben hat. Doch seit Mitte des 20. Jahrhunderts konzentriert sich dieser Prozeß auf die Bewältigung der ökonomischen Unterschiede und auf die Schaffung einer gemeinsamen Währung als zentraler Achse der Integration eines guten Teils Europas. Dabei werden andere soziale oder kulturelle Werte in den Hintergrund gedrängt. Gegenwärtig sieht sich die Union einem beschleunigten Niedergang des Sozialstaates gegenüber. Das schafft in Ländern wie der Hellenischen Republik, Spanien, Portugal und Italien, wo die Ökonomie nicht über menschliche oder soziale Werte gestellt wird, große Spannungen.

Die westliche Welt schuldet der hellenischen Zivilisation sehr viel. Diese Gesellschaft war das Opfer schrecklicher Menschenrechtsverletzungen durch zahlreiche Imperien. Ihre Kultur wurde beleidigt, sie war das Opfer von Ausplünderung. Es würde schon reichen, durch die Museen der Welt zu spazieren und sich zu fragen, warum diese die kulturellen Reichtümer dieses Volkes besitzen.

Wenn in Lateinamerika über Integration gesprochen wird, wird berücksichtigt, daß die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Ländern nicht ignoriert werden dürfen, denn wenn die Differenzen unterdrückt werden, wird dies auf lange Sicht für alle Völker mit hohen sozialen Kosten verbunden sein. Deshalb schreitet Lateinamerika in seinen verschiedenen Integrationsmechanismen mit großer Vorsicht voran. Es geht darum, auf keinen Fall den Süden als Bezugspunkt zu verlieren. Dazu dienen die Solidarität, Brüderlichkeit, Toleranz und Respekt für die kulturelle Vielfalt und die Selbstbestimmung der Völker.

Welche Folgen kann die Krise der Gemeinschaftswährung Euro für das Projekt einer gemeinsamen lateinamerikanischen, Währung, den SUCRE, haben?

Ich glaube, wenige. Wir können zwar sagen, daß der Euro auch so begonnen hat wie der SUCRE heute, als virtuelle Buchwährung. Doch der SUCRE stützt sich auf die Länder der Bolivarischen Allianz ALBA, und die Grundlage von deren Beziehungen ist die Solidarität. Die Frage ist nicht: Was kannst du bezahlen? Sondern: Was brauchst du? Ziel ist, daß jeder beiträgt, was er beitragen kann. Die Grundlage ist die Solidarität und der Respekt für die Identität der Völker, wo die soziale Gerechtigkeit über dem wirtschaftlichen Gewinn und dem von einigen wenigen steht.

Erschienen am 8. September 2012 in der Tageszeitung junge Welt