Schüsse auf dem Campus

Nach dem »Verschwinden« und der wahrscheinlichen Ermordung von 43 Studenten spitzt sich in Mexiko die innenpolitische Lage zu. Am Wochenende schossen Polizisten auf dem Campus der Mexikanischen Nationalen Autonomen Universität (UNAM) auf Protestierende, obwohl die Verfassung den Einsatz der Uniformierten auf dem Hochschulgelände ausdrücklich verbietet. Während Hochschulvertreter von »mindestens einem Verletzten« sprachen, berichtete der linke Rundfunksender Regeneración Radio über fünf Opfer. Am Sonnabend hätten sich Beamte der PGJ, einer regionalen Polizei- und Anklagebehörde der mexikanischen Hauptstadt, in der Umgebung des »Che-Guevara-Auditoriums« aufgehalten und Fotos von den dort Anwesenden gemacht. Dieser Hörsaal ist seit Jahren von den Studenten besetzt und wird für alternative Vorlesungen und politische Veranstaltungen genutzt. Rund 20 Jugendliche hätten die Beamten angesprochen und sie zum Verlassen des Hochschulgeländes aufgefordert. Daraufhin habe einer der Polizisten seine Waffe gezogen, auf die Gruppe der Studenten gerichtet und mehrere Schüsse abgegeben, zunächst in den Boden und anschliessend direkt auf die flüchtenden Jugendlichen.

 

Die PGJ wies die Vorwürfe zurück und behauptete, der Beamte habe »in die Luft« geschossen. Hintergrund sei der Diebstahl eines Mobiltelefons gewesen. Diese Erklärung hat in der mexikanischen Öffentlichkeit für Empörung gesorgt. »Seit wann ermittelt die Polizei so energisch wegen eines gestohlenen Handys«, fragen etwa Internetnutzer in den Kommentarspalten zahlreicher mexikanischer Tageszeitungen. Der Direktor der UNAM, José Narro Robles, veröffentlichte am Sonntag (Ortszeit) ein Kommuniqué, in dem er einerseits die Studenten zur Besonnenheit aufrief, zugleich aber auch den Polizeieinsatz verurteilte: »Die Präsenz der öffentlichen Gewalt in unseren Einrichtungen ist nicht wünschenswert. Ich fordere von den Behörden, dass sich die Ereignisse von gestern im Universitätsviertel nicht wiederholen.«

Die Lage in Mexiko ist angespannt, seit im September 43 Studenten des Lehrerseminars von Ayotzinapa im südwestlichen Bundesstaat Guerrero nach ihrer Festnahme durch die Polizei »verschwanden«. Der offiziellen Version zufolge sollen die Verhafteten von korrupten Beamten der kriminellen Gruppe »Guerreros Unidos« (Vereinte Krieger) übergeben worden sein, die sie dann ermordet habe. Mehrere Bandenmitglieder sollen das Verbrechen gestanden haben. Mexikos Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karame erklärte, die Leichen der Studenten seien stundenlang verbrannt worden, bis nur noch Asche übrig geblieben sei. Dann seien die Reste in Müllsäcke gesteckt und in einen nahegelegenen Fluss geworfen worden, um alle Spuren zu verwischen.

Reporter der Wochenzeitung Proceso, die den Müllberg aufgesucht hatten, an dem die Mörder die 43 Studenten umgebracht und verbrannt haben sollen, konnten dort jedoch keine Bestätigung oder Zeugen dieser Ereignisse finden. Die Journalisten fragen weiter, wie ein so professionelles Verwischen aller Spuren damit zusammenpasst, dass die Mörder die Leiche zumindest eines Studenten, des 22jährigen Julio César Mondragón Fuentes, triumphierend zur Schau stellten. Die offizielle Version der Ereignisse sei nicht haltbar.

»Es war der Staat«, sind auch viele Studenten überzeugt, die seit Wochen nahezu täglich für die Rückkehr der »Verschwundenen« auf die Straße gehen. Am Sonntag kündigten die Demonstranten im Zentrum von Mexiko-Stadt für Donnerstag mindestens drei Großkundgebungen in der Metropole an. Daran wollen auch die Eltern der 43 Studenten teilnehmen, die derzeit auf einer Rundreise durch ganz Mexiko über das Schicksal ihrer Kinder informieren. Am Wochenende kamen einige von ihnen in Chiapas mit führenden Vertretern der Zapatisten zusammen.

Deren »Subcomandante« Moisés kritisierte bei der Veranstaltung Politiker, die die Opfer zuvor noch als »Aufrührer« beschimpft hätten, sich nun aber entsprechend der »Mode« an die Seite der Protestierenden stellen wollten. »Die da oben versuchen es noch immer, um so vom wirklich Schuldigen abzulenken.«

Erschienen am 18. November 2014 in der Tageszeitung junge Welt