»Venezuela und Kuba sind die Schwachstellen«

Ein Gespräch mit Heinz Dieterich. Heinz Dieterich lebt in Mexiko und ist emeritierter Professor für Sozialwissenschaften der Nationalen Autonomen Universität UNAM

Sie waren in der Vergangenheit häufig in den Medien als Experte für Lateinamerika präsent. In den letzten Jahren scheint dies aber zurückgegangen zu sein. Ist das richtig?

Das ist zum Teil richtig, weil ich mich darum gekümmert habe, eine weltweite Bewegung für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts aufzubauen, eine Verbindung zu Asien herzustellen und so eine neue Trikontinentale aus Latein- und Nordamerika, Europa und China zu schaffen. China ist deshalb so wichtig, weil es als inzwischen zweitgrößte Weltmacht die letzte große Chance darstellt, auf staatlicher Ebene etwas für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu machen.

In Lateinamerika gibt es zwei Schwachstellen. Eine ist, im wesentlichen wegen der ökonomischen und Bewußtseinssituation, Venezuela. Die offiziellen Massenorganisationen sind hier emotional nach wie vor sehr stark an den Präsidenten gebunden; haben keine tiefergehende klassenbewußte Struktur, wie es zum Beispiel unter Allende bei den Chilenen der Fall war, oder wie es in Kuba der Fall ist. Die andere Schwachstelle ist Kuba, denn dort fließen drei Krisen zusammen. Das Problem der Nachfolgegeneration ist nicht gelöst. Es gibt eine sehr starke ökonomische Krise, die zum Teil – wie in der Landwirtschaft – selbstverschuldet ist durch sehr hohe Agrarimporte einerseits und durch das Brachliegen der Hälfte des Landes andererseits. Das dritte Problem besteht darin, daß es zwei Entscheidungszentren gibt, auf der einen Seite Fidel und auf der anderen Seite Raúl. Das paralysiert Reformen, die man bräuchte. In dieser Situation interveniert die katholische Kirche als »menschenfreundliche Institution«, die ohne eigene Interessen nur vermitteln will. Das ist der Wolf im Schafspelz. Das ist, was Wojtyla in Polen gemacht hat und was in der DDR mit der protestantischen Kirche abgelaufen ist. In der Situation einer schwächelnden kubanischen Revolution ist das natürlich außerordentlich gefährlich.

Wenn Venezuela und Kuba die Schwachpunkte sind, sind also die anderen ALBA-Staaten Nicaragua, Bolivien und Ecuador die starken Punkte?

Nicaragua nicht, weil es dort keine große Parlamentsmehrheit gibt. Angesichts der US-Destabilisierungspolitik gegen die sandinistische Regierung und angesichts ihres Staatsterrorismusprogramms in Honduras ist die Stabilität Nicaraguas mittelfristig nicht gesichert. Bolivien und Ecuador hingegen sind im Moment relativ konsolidiert.

Aber gerade dort scheinen die Regierungen doch unter Druck zu stehen, zum Beispiel durch Proteste der Indígenas…

In Ecuador wird die Indígenabewegung zu einem bedeutenden Teil von Leuten kontrolliert, die sektiererische Positionen haben und unrealistische, utopische Forderungen an die Regierung stellen. Andererseits fehlt Präsident Rafael Correa, aufgrund seiner rationalistischen Ausbildung als Ökonomieprofessor, manchmal die politische Erfahrung und Sensibilität, um mit den Indígenas über Probleme wie zum Beispiel die Wasser- oder Erzabbaurechte zu diskutieren. Einige Proteste sind legitim, aber andere sind sektiererisch und werden häufig auch von ausländischen Organisationen, NGOs, finanziert.

In Bolivien denke ich, daß die absolute Mehrheit der indigenen Bevölkerung hinter Evo steht. Dort kommt die Gegenwehr eher aus der Lehrergewerkschaft und einigen Studentenorganisationen, die traditionell maoistisch orientiert sind, und denen nicht ausreicht, was Evo macht, weil dies auf einen »andinen Kapitalismus« hinausläuft, wie es sein Vizepräsident gesagt hat. Daneben gibt es auch Widerstand aus Sektoren der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die traditionelle Konzeptionen des historischen Sozialismus verfolgen und nicht bereit sind, ein staatsinterventionistisches Entwicklungssystem, wie es Evo anstrebt, zu akzeptieren.

Wenn diese beiden Länder nun die stärksten sind, welche Ausstrahlung haben sie auf andere Staaten?

In Lateinamerika wird das gemacht, was Brasilien möchte. Es ist das Gravitationszentrum des Halbkontinents, wie man an vielen Beispielen zeigen kann. Das zweitwichtigste Land ist Venezuela. Daher versuchen die USA, das venezolanische Experiment abzubrechen, weil damit Nicaragua fallen würde, weil wahrscheinlich auch Kuba unhaltbar werden würde und weil damit die Position von Correa gegenüber Kolumbien und die von Evo geschwächt würden. Wenn es den USA gelingt, in Brasilien einen Neoliberalen wie José Serra an die Regierung zu bringen, der bereits gesagt hat, daß er Schluß machen will mit dem Mercosur als politischem Projekt, oder wenn es ihnen gelingt, in Venezuela die Kräfteverhältnisse qualitativ zu verändern oder den Präsidenten an die Seite zu drücken dann wird die ganze Entwicklungs- und Integrationsdynamik der letzten zehn Jahre gestoppt. Und dann werden wir wieder neoliberale Regierungen bekommen. Das wäre ein furchtbarer Rückschritt.

Erschienen am 24. Juni 2010 in der Tageszeitung junge Welt