Mariela Castro

»Sozialismus ist kein Kunstwerk«

Mariela CastroDie Leiterin des kubanischen Zentrums für Sexualerziehung nimmt heute am Christopher Street Day in Hamburg teil. Vorher besuchte sie die jW-Redaktion. Gespräch mit Mariela Castro Espín. Mariela Castro Espín leitet das Nationale Zentrum für Sexualerziehung (CENESEX) in Havanna. Sie ist die Tochter des kubanischen Präsidenten Raúl Castro und der 2007 verstorbenen Präsidentin des Kubanischen Frauenverbandes, Vilma Espín

Sie sind zu Besuch in Deutschland, um am Samstag am Christopher Street Day in Hamburg teilzunehmen. Wie ist es dazu gekommen?

Vor mehr als zwei Jahren hat Corny Littmann, der damalige Präsident des FC St. Pauli, das Zentrum für Sexualerziehung in Havanna besucht, um unsere Arbeit kennenzulernen. In unserem Gespräch hat sich dann herausgestellt, daß es sehr schön wäre, nach Deutschland zu kommen. Nicht nur, um am Christopher Street Day teilzunehmen, sondern auch um mich mit Einrichtungen und Fachleuten aus dem Bereich, in dem ich arbeite, auszutauschen. Corny Littmann ist Schirmherr des diesjährigen CSD als Anerkennung für das, was er in Hamburg für die LGBT (engl. Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender) erreicht hat. Er hat natürlich das Recht, sich Leute einzuladen, und so hat Herr Littmann mich gebeten, ihn zu begleiten.

In Hamburg hat Ihre Teilnahme Kritik ausgelöst. So hat die Schwulenzeitschrift Hinnerk auf ihrer Homepage einen Kommentar veröffentlicht, daß Sie nicht an der Spitze des CSD gehen dürften, weil Sie als »Angehörige des Castro-Clans« in Kuba Privilegien genießen. Außerdem wird ein Interview mit dem Deutschlandfunk aus dem Jahr 2008 zitiert, in dem Sie gesagt haben sollen, daß Sie mit dem Christopher Street Day nichts zu tun haben wollen…

Als erstes möchte ich klarstellen, daß meine Familie keine Privilegien hat. In Kuba Politiker zu sein bedeutet große Verantwortung und ein großes Opfer. Das ist keine Karriere, die Privilegien bringt. Zweitens überrascht mich, daß eine schwule Zeitschrift eine Aktivistin nicht dabei unterstützt, in ihrem Land für die Rechte der LGBT einzutreten. Was dieses Interview angeht, habe ich nie über den Christopher Street Day gesprochen, weil ich noch nie an einem teilgenommen habe. Ich habe deshalb keine Ahnung, wo dieser Journalist die Idee her hat, daß ich das gesagt haben soll. Ich habe nur erklärt, daß ich von vielen Aktivisten, die an den Gay-Pride-Veranstaltungen teilgenommen haben, Zweifel an dieser Form von Aktionen gehört habe. Deshalb haben wir in Kuba entschieden, nicht das zu wiederholen, was alle auf der Welt machen. Von einem französischen Aktivisten kam der Vorschlag, den 16. Mai als Internationalen Tag gegen Homophobie zu begehen. An diesem Tag 1990 hat die Weltgesundheitsorganisation beschlossen, Homosexualität nicht mehr als Krankheit zu betrachten. So haben wir in Kuba 2007 begonnen, dieses Datum mit einer Woche voller künstlerischer und akademischer Aktivitäten, öffentlichen Diskussionsveranstaltungen und Kampagnen in den Medien zu feiern.

Wie reagiert die Bevölkerung auf diese Aktivitäten?

Viele sind gegen das, was wir tun. Die katholische Kirche und die Baptisten schicken zum Beispiel Jahr für Jahr Protestbriefe an die Parteiführung, um dort eine Annahme unserer Vorschläge zu verhindern. Aber in der kubanischen Gesellschaft wird dieses Thema bereits diskutiert, und das bedeutet, daß die Leute nachdenken und lernen.

Wenn ich es richtig verstanden habe, mußten Sie einen Gesetzentwurf zurückziehen…

Nein, das hat ein Journalist hier in Deutschland erfunden. Wir haben niemals irgendwas zurückgezogen, sondern beharren darauf, daß unserem Parlament ein Antrag auf Änderung des Familienrechts vorgelegt wird. Darin wird neben vielen anderen Dingen ein neuer Artikel vorgeschlagen, wonach homosexuelle Paare die gleichen Rechte genießen sollen wie heterosexuelle.

Und wann kann mit einer Verabschiedung dieses Antrags gerechnet werden?

Man hat uns mitgeteilt, daß unser Vorschlag im kommenden Jahr der Nationalversammlung vorgelegt werden wird. Nun steht vor uns die Herausforderung, die Abgeordneten zu überzeugen, dieses Gesetz auch anzunehmen. Ich weiß natürlich, daß dies nicht einstimmig erfolgen wird, aber ich gehe davon aus, daß die Mehrheit dafür sein wird.

In den ersten Jahren der Revolution war die Situation eine andere…

Die homophoben Vorurteile, die vor allem ein Erbe der spanischen und afrikanischen Kultur sind, waren so stark, daß in den 60er, 70er und 80er Jahren die politischen Entscheidungen, die in Kuba getroffen wurden, ebenfalls homophob waren, nicht anders als in Europa und anderen Ländern Amerikas, aber weniger gewalttätig. Mir ist sehr wichtig, daß wir unsere Geschichte nicht verleugnen. Am Besten ist, über die guten und die schlechten Dinge zu sprechen, die uns passiert sind, und daraus Schlußfolgerungen zu ziehen, damit sich solche Ereignisse nicht wiederholen können. Daran arbeiten wir.

Wie sind diese Diskussionen in Ihrer eigenen Familie abgelaufen?

Von meinen Eltern und meiner Familie habe ich gelernt, Ungerechtigkeit nicht hinzunehmen und mich gegen sie aufzulehnen. Manche sagen, ich sei die Rebellin der Familie, aber im Vergleich mit meiner Mama, meinem Papa und meinem Onkel bin ich das nicht. Sie waren wirkliche Rebellen, sie haben sogar eine Revolution gemacht und kämpfen weiter. Von meinen Eltern habe ich gelernt, daß es schlecht ist, Menschen wegen ihrer Homosexualität zu diskriminieren. Und meine Mutter hat als Präsidentin des Frauenverbandes, den sie von dessen Gründung bis zu ihrem Tod geleitet hat, diesen Kampf zur Verteidigung der Rechte der Homosexuellen und Transgender begonnen. Sie hat das Nationale Zentrum für Sexualerziehung gegründet, das ich derzeit leite. So hat die Gesellschaft begonnen, sich Schritt für Schritt zu verändern. In Kuba wollen wir alle Veränderungen, zuallererst der Präsident.

Apropos Veränderungen: Internationale Medien stürzen sich derzeit darauf, wenn bekannte Kubaner Veränderungen fordern, so nach Äußerungen von Silvio Rodríguez oder vor einigen Tagen in Deutschland Der Spiegel, der Sie interviewte.

Von der Zeitschrift Der Spiegel bin ich sehr enttäuscht, denn den Journalisten dort fehlt professionelle Ethik. Ich habe ihnen ein Interview gegeben, das ich mit meiner eigenen Kamera gefilmt habe, weil ich von der gegenüber Kuba feindlichen Einstellung dieser Zeitschrift wußte und sichergehen wollte, daß sie mein Interview nicht verändern. In der gedruckten Fassung hat die Redaktion Fragen eingefügt, die sie mir nie gestellt hat. Eine solche Frechheit und ein solches Fehlen von Professionalität habe ich noch nicht erlebt, nicht einmal bei Medien in den USA. Ich hatte natürlich schon Probleme mit anderen Medien, aber eine solche Feindseligkeit und eine solche Falschheit bei der Herstellung eines Interviews habe ich noch nicht erlebt. Sie haben zu dem Interview sogar noch einen Artikel veröffentlicht, der voller Lügen ist. Die Phantasie dieses Autors ist wirklich beeindruckend. Vor allem gibt er den inhaftierten Söldnern, die jetzt freigelassen werden, eine völlig überzogene Bedeutung. Diese Söldner sitzen nicht im Gefängnis, weil sie irgendwelche Ideen haben, sondern weil sie ihren Sold aus den USA erhalten, darunter auch über Agenten anderer Länder, die dafür ihren Diplomatenausweis ausnutzen. Dazu gehört auch Volker Pellet von der deutschen Botschaft. Dieser Herr Pellet widmet sich Tag für Tag der Aufgabe, den Söldnern ihr Geld zu bringen, und versucht, Oppositionsgruppen zu gründen. Das ist auch so ein Punkt im Spiegel-Artikel, er erwähnt eine beeindruckende Zahl von Gruppen. Wenn das stimmen würde, wäre die Revolution längst zusammengebrochen. Aber die kubanische Revolution wird immer stärker.

Wie hat denn der Spiegel das Interview konkret manipuliert?

Zum Beispiel erwähnen sie im Blatt den Liedermacher Pablo Milanés, das haben sie in Wirklichkeit aber nicht getan. Ich mag es nicht, daß sie versuchen, meinen Freund Pablo zu einem Feind der Revolution zu machen. Wenn die mir diese Fragen gestellt hätten, hätte ich sie völlig anders beantwortet, vor allem nicht so kalt, denn ich bin nicht kalt, sondern sehr temperamentvoll und leidenschaftlich. Wenn mir eine provokative Frage gestellt wird, dann beantworte ich die nicht so kühl.

Auch hier in Deutschland fordern die Menschen mehr Demokratie, und auch hier werden nicht alle Menschenrechte garantiert. Wenn sie von Demokratie für Kuba sprechen, dann wollen sie unser System zerschlagen, um uns besser beherrschen zu können. Wir Kubaner wollen aber unsere Errungenschaften nicht verlieren, die wir durch die sozialistischen Anstrengungen erreicht haben. Der Sozialismus ist kein abgeschlossenes Kunstwerk. Die kreative Arbeit, eine neue Utopie zu realisieren, ist eine große Anstrengung. Wir erfinden unseren Sozialismus selbst und brauchen niemanden, der uns sagt, was wir zu tun haben.

Erschienen am 7. August 2010 in der Tageszeitung junge Welt