Rom nimmt Geiseln

In Italien geht das Tauziehen um das Schicksal von 177 aus dem Mittelmeer geretteten Flüchtlingen weiter. Sie seien »Geiseln der Regierung«, titelte die linke italienische Tageszeitung Il Manifesto am Dienstag. Auf Befehl von Innenminister Matteo Salvini würden die Schutzsuchenden als Gefangene auf der »Diciotti« festgehalten, um die anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu erpressen. Auch die Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR für Südeuropa, Carlotta Sami, prangerte die dramatische Lage der Menschen an. Sie seien misshandelt und gefoltert worden und Opfer des Menschenhandels, schrieb sie in der Nacht zum Dienstag auf Twitter. »Sie brauchen dringend Hilfe und das Recht darauf, Asyl zu beantragen. Das ist ein fundamentales Recht, kein Verbrechen.«

Die Flüchtlinge waren am Donnerstag im Mittelmeer gerettet und von der »Diciotti«, einem Schiff der italienischen Küstenwache, aufgenommen worden. 13 Menschen, die dringend ärztliche Hilfe brauchten, wurden zunächst auf die Mittelmeerinsel Lampedusa gebracht. Anschließend sollten die anderen Flüchtlinge in Malta von Bord gelassen werden, da sie innerhalb der von Valetta eingerichteten Such- und Rettungszone aufgenommen wurden. Die Regierung Maltas verweigerte ihnen jedoch die Aufnahme. Auch Italien verbot dem eigenen Schiff tagelang das Anlegen. Erst am Montag erteilte Verkehrsminister Danilo Toninelli der »Diciotti« die Genehmigung, den Hafen von Catania auf Sizilien anzulaufen. Sein Kabinettskollege Salvini verweigert den Menschen jedoch die Erlaubnis, an Land zu gehen. Sie sollen das Schiff erst dann verlassen dürfen, wenn sie von anderen EU-Mitgliedsstaaten aufgenommen werden.

»Es kann kein Dauerzustand sein, dass wir uns im monatlichen Zyklus darüber unterhalten, welches Land die Flüchtlinge aufnimmt«, kritisierte der FDP-Bundestagsabgeordnete Ulrich Lechte am Dienstag auf Facebook das regelmäßig wiederkehrende Gezerre zwischen den EU-Ländern. »Die Schiffe von Hilfsorganisationen mit aus dem Mittelmeer geretteten Menschen an Bord sollten nicht darum kämpfen müssen, einlaufen zu dürfen.«

Seit Jahresanfang sind nach Schätzungen des UNHCR mindestens 1.530 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen. Auf eine fast identische Zahl kommt auch die Internationale Organisation für Migration (IOM). Sie verzeichnet zudem für Juni und Juli einen deutlichen Anstieg der Todesfälle gegenüber denselben Monaten des Vorjahres – genau ab dem Zeitpunkt also, als vor allem Italien und Malta begannen, humanitäre Hilfsorganisationen und deren Rettungsschiffe an ihrer Arbeit zu hindern. Zugleich aber lassen auch staatliche Akteure immer mehr Menschen ertrinken. Wie das Internetportal Buzzfeed am Dienstag berichtete, hat etwa die sogenannte EU-Grenzschutzmission »Sophia« im laufenden Jahr 83 Prozent weniger Menschen gerettet als im Vorjahreszeitraum. Das gehe aus einer Stellungnahme der Mission hervor. Die deutsche Marine als Teil der gemeinsamen Militäroperation hat seit Anfang Mai keinen einzigen Menschen mehr aus Seenot gerettet, wie die Bundesregierung auf Anfrage Lechtes mitteilte. Auch im Januar, Februar und März kam es demnach zu keiner einzigen Rettungsaktion, nur im April wurden 403 Menschen geborgen. Die deutschen Marinesoldaten der NATO-Operation »Sea Guardian« haben in den vergangenen zwölf Monaten überhaupt keinen Schiffbrüchigen aus dem Mittelmeer gezogen.

Erschienen am 22. August 2018 in der Tageszeitung junge Welt