»Rollback« mit Ansage

Am heutigen Dienstag tritt in Caracas die am 6. Dezember neugewählte Nationalversammlung zusammen. Erstmals verfügt die rechte Opposition darin über eine klare Mehrheit, auch wenn drei ihrer Abgeordneten ebenso wie ein Vertreter der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) nach einer einstweiligen Anordnung des Obersten Gerichtshofs noch nicht vereidigt werden können (jW berichtete). Dadurch erreichen die Regierungsgegner zunächst nicht die Zweidrittelmehrheit, die ihnen Verfassungsänderungen ermöglicht hätte.

Neuer Parlamentspräsident dürfte der Chef der sozialdemokratischen Partei Demokratische Aktion (AD), Henry Ramos Allup, werden. Er hatte sich am Sonntag (Ortszeit) bei einer fraktionsinternen Kampfabstimmung des Oppositionsbündnisses »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD) gegen Julio Borges von der rechtskonservativen Organisation »Zuerst Gerechtigkeit« (PJ) durchgesetzt. Beide sind auch Konkurrenten als mögliche Präsidentschaftskandidaten, wenn es den Rechten gelingen sollte, Staatschef Nicolás Maduro durch ein Amtsenthebungsreferendum zu stürzen.

Maduro stürzen

Wie der Fernsehsender Telesur berichtete, kündigte Allup bereits an, die Exekutive noch im ersten Quartal 2016 absetzen zu wollen. Verfassungskonform wäre das allerdings nicht. Der Präsident wird in Venezuela direkt gewählt und ernennt selbständig sein Kabinett und seinen Stellvertreter. Maduro ist nach seinem Wahlsieg 2013 regulär bis 2019 im Amt. Nach Ablauf der Hälfte seiner Amtszeit – was im April der Fall ist – eröffnet die Verfassung lediglich die Möglichkeit, den Staatschef durch ein Amtsenthebungsreferendum zu stürzen. Dazu müssten die Regierungsgegner ab April die Unterschriften von 20 Prozent aller Wahlberechtigten sammeln. Wenn ihnen dies gelingt, käme es zu einem Volksentscheid, bei dem über den Verbleib Maduros im Amt entschieden wird. Eine solche Abstimmung hatte es schon einmal 2004 gegeben, als die Opposition versuchte, den damaligen Präsidenten Hugo Chávez aus dem Amt zu jagen. Der Versuch scheiterte, Chávez wurde eindrucksvoll als Staatschef bestätigt – während die Opposi­tion durch ihre Niederlage in eine tiefe Krise gestürzt wurde. Auch diesmal ist ein Sieg der Regierungsgegner noch nicht ausgemacht. Und sollten sie eine Mehrheit gegen Maduro zusammenbekommen, gäbe es vorgezogene Präsidentschaftswahlen, für die sich die Rechte auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen müsste. Populär sind ihre führenden Figuren allen Umfragen zufolge jedoch kaum.

Maduro jedenfalls zeigt sich kampfbereit und will die von Chávez 1999 initiierte »Bolivarische Revolution« retten. Das Land steht in den kommenden Monaten vor der Entscheidung, ob Venezuela ein »Rollback« in den Neoliberalismus erleidet oder ob die Niederlage bei der Parlamentswahl ein heilsamer Schock war, um den erlahmten Elan der »Revolutionäre« wieder aufzuwecken.

Kein Rezept

Die Wahlniederlage war in ihrem Ausmaß zwar überraschend, doch es hatte sich lange abgezeichnet, dass das Regierungslager bei der Abstimmung einen Denkzettel kassieren würde. Denn auch 2015 hatte das Kabinett von Maduro kein Rezept dafür gefunden, dem Wirtschaftskrieg der Opposition und der privaten Handelsketten mit wirksamen Maßnahmen zu begegnen. Zwar wurden schon im Februar zeitweilig Supermärkte vom Militär besetzt und Manager inhaftiert, weil sie Waren gehortet haben sollen, doch die Lage blieb angespannt. Vor den Geschäften bildeten sich immer wieder lange Schlangen, wenn bestimmte Waren des täglichen Bedarfs doch einmal zu bekommen waren. Obwohl die staatlichen Medien regelmäßig spektakuläre Erfolge gegen Schieberbanden meldeten, die etwa Toilettenpapier und Mais­mehl zurückhielten, verbesserte sich die Situation nicht spürbar.

Vor allem die Grenzregionen sind in den vergangenen Jahren zu einem Eldorado für den Schwarzhandel geworden, weil Waren aus Venezuela, die der Preiskontrolle unterliegen, in die Nachbarländer geschmuggelt und dort zu deutlich höheren Preisen verkauft wurden.. Im August versuchte Maduro deshalb, dem Schmuggel durch eine Teilschließung der Grenze zu Kolumbien einen Riegel vorzuschieben. Kolumbianer ohne gültige Aufenthaltsberechtigung wurden teilweise über Nacht aus Venezuela abgeschoben, darunter in Einzelfällen offenbar auch Flüchtlinge, die in der Bolivarischen Republik politisches Asyl genossen hatten. Kritik gab es dafür sowohl aus Bogotá als auch vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Bei den Unterstützern von Präsident Maduro traf die Entscheidung dagegen auf große Zustimmung. Gefordert wurde von einigen sogar der Bau einer Mauer entlang der kompletten Grenze, wie sie die USA zu Mexiko errichtet haben. Bei Großdemonstrationen in Caracas wurde eine »harte Hand« gegen Paramilitärs und Schmuggler gefordert.

Während besonders in kolumbianischen Grenzstädten wie Cúcuta die Grenzschließung zu spüren war und etwa Benzin plötzlich knapp wurde, brachten die Maßnahmen in Venezuelas Metropolen wie Caracas keine längerfristige Entspannung bei der Warenversorgung. Darauf setzte die Opposition im Wahlkampf und versprach, nach ihrem Sieg werde es keine Schlangen vor den Geschäften mehr geben. Davon allerdings will sie inzwischen nichts mehr wissen.

Politische Entlastung gab es für Maduros Regierung lediglich auf außenpolitischem Gebiet. Im März erklärte US-Präsident Barack Obama Venezuela per Dekret zu einer »außergewöhnlichen Bedrohung für die nationale Sicherheit und die Außenpolitik der Vereinigten Staaten«. Das sorgte nicht nur in dem so attackierten Land, sondern in ganz Lateinamerika für Empörung und weckte Ängste, Washington kehre wieder zur alten Rolle als Hegemon in seinem Hinterhof zurück. Millionen Menschen weltweit unterstützten einen Appell an Obama, das Dekret aufzuheben. In Venezuela gingen Zehntausende unter der Losung »Venezuela ist keine Bedrohung, sondern eine Hoffnung« auf die Straße, und in den Umfragen legte Maduro auf einmal wieder zu. Selbst die Opposition muss­te auf Distanz zu Washington gehen. Obama ruderte schließlich halbwegs zurück und sprach von einem »Miss­verständnis« – hob das Dekret jedoch nicht auf.

Streit mit Guayana

Von einer anderen außenpolitischen Krise konnte die Regierung in Caracas dagegen nicht profitieren. Nachdem am 11. Mai im Nachbarland Guayana die linksgerichtete Progressive Volkspartei (PPP) die Wahlen verloren hatte und die Macht an eine Allianz bürgerlicher Oppositionskräfte abgeben musste, verschlechterten sich die bilateralen Beziehungen dramatisch. Hintergrund ist ein seit Jahrzehnten schwelender Grenzkonflikt um ein knapp 160.000 Quadratkilometer großes Gebiet westlich des Flusses Essequibo, das heute von Guayana verwaltet, aber auch von Caracas beansprucht wird. In offiziellen venezolanischen Landkarten wird die Region immer dem eigenen Staatsgebiet zugerechnet und lediglich durch Streifen als »umstritten« markiert. Die jüngste Eskalation wurde durch eine offizielle Mitteilung des US-Konzerns Exxon nur wenige Tage nach dem Wahlsieg der Rechten ausgelöst, derzufolge man vor der Küste Guayanas große Erdölvorkommen entdeckt habe. Zugleich lag jedoch auch der Verdacht nahe, dass Maduro mit der patriotischen Karte von den innenpolitischen Problemen ablenken wollte.

Vor Venezuela und Lateinamerika liegen spannende Monate, denn in Gefahr sind auch fortschrittliche Integrationsprojekte wie die von Havanna und Caracas gemeinsam betriebenen internationalen Gesundheitsmissionen, die Erdölkooperation mit den Staaten der Karibik und Zentralamerikas, der internationale Fernsehsender Telesur oder auch die 2004 von Hugo Chávez und Fidel Castro gegründete Bolivarische Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA). Noch kann das »Rollback« gestoppt werden.

Erschienen am 5. Januar 2016 in der Tageszeitung junge Welt