junge Welt, 9.12.2016

Retourkutsche gegen Caracas

Die Regierungen von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay haben am 2. Dezember Venezuela aus dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) ausgeschlossen, in den die Bolivarische Republik erst 2012 aufgenommen worden war. Begründet wurde die »Suspendierung« damit, dass Caracas Verpflichtungen nicht erfüllt habe, die es mit der Unterzeichnung des Beitrittsvertrages übernommen hatte. Die venezolanische Regierung wies das zurück. Venezuela habe in nur vier Jahren 95 Prozent der Normen des Mercosur in nationales Recht umgesetzt und sei damit »effizienter als der Rest der Länder, die sich nach 25 Jahren, die seit seiner Gründung vergangen sind, unserem Prozentanteil der Normenübernahme nicht einmal annähern«. Wenn die vier Regierungen ihre Kriterien ernst nähmen, »müssten sie sich angesichts ihres extravaganten und skandalösen Verzugs selbst suspendieren«, heißt es in einem Kommuniqué des venezolanischen Außenministeriums vom vergangenen Wochenende. Caracas, das formell gerade die Präsidentschaft des Mercosur ausübt, berief für den 5. Dezember eine Sitzung des Bündnisses ein, um die offenen Fragen zu diskutieren. Die anderen Regierungen ignorierten die Einladung jedoch, nur der Vertreter Boliviens – das sich derzeit im Aufnahmeprozess befindet – fand sich zu dem Termin ein. Venezuelas Mercosur-Botschafter José Félix Rivas betonte daraufhin auf einer Pressekonferenz in Montevideo, sein Land sehe keinen Grund, seine für ein halbes Jahr übernommene Präsidentschaft nicht auszuüben. Die Suspendierung Venezuelas habe der Integrationsgeschichte Lateinamerikas »eine tiefe Verletzung zugefügt«, so Rivas.

Tatsächlich sind die in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten entstandenen oder weiterentwickelten Regionalbündnisse mit der Rückkehr der Rechten an die Regierung in eine Krise geraten. Dabei geht es zunächst um Symbolpolitik, denn die Gründung von Allianzen wie der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas (Alba) 2004, der Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) 2008 oder der Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft (Celac) 2011 ist eng mit dem Namen des 2013 verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez verbunden. Dieser hatte den Zusammenschluss der Region zu einem zentralen Punkt seiner Regierungstätigkeit gemacht. Venezuelas 1999 verabschiedete Verfassung bekennt sich schon in der Präambel zur Integration Lateinamerikas.

Der jetzige Ausschluss Venezuelas ist deshalb in erster Linie eine Retourkutsche. Brasiliens Regime revanchiert sich auf diese Weise für die scharfe Kritik aus Caracas am Sturz der demokratisch gewählten Präsidentin Dilma Rousseff durch das brasilianische Parlament im August. Auch Paraguay hatte noch eine Rechnung offen, denn erst die zeitweilige Suspendierung von Asunción nach dem Sturz von Präsident Fernando Lugo 2012 hatte den Weg für die Mercosur-Aufnahme Venezuelas freigemacht. Für Argentiniens Staatschef Mauricio Macri ist die Suspendierung von Caracas auch ein Schlag gegen seine Amtsvorgängerin Cristina Fernández de Kirchner, deren Nähe zu Hugo Chávez und dessen Amtsnachfolger Nicolás Maduro den Rechten seit Jahren ein Dorn im Auge war.

Für den Mercosur kann die rechte Inszenierung gefährlich werden, denn durch sie wird eine notwendige Reform des Bündnisses weiter auf die lange Bank geschoben. Keines der Mitgliedsländer zeigte sich bislang tatsächlich bereit, eigene Interessen für gemeinsame Ziele zurückzustellen. So fehlen dem 1991 gegründeten Markt bis heute Sonderregelungen zum Schutz der kleineren Länder, die so wirtschaftlich zwischen den Giganten Brasilien und Argentinien zerrieben werden. Auch gibt es keine wirksamen Schlichtungsinstanzen, die bei Konflikten zwischen Mitgliedsländern vermitteln könnte. So trugen Buenos Aires und Montevideo 2010 ihren Streit um eine von Uruguay nahe der gemeinsamen Grenze geplanten Papierfabrik vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag aus.

Profitieren könnte davon die Europäische Union, die seit Jahrzehnten mit dem Mercosur über einen Handelsvertrag verhandelt. Aufgenommen worden waren die Gespräche bereits kurz nach der Gründung des südamerikanischen Blocks, doch mehrfach gerieten sie ins Stocken. Noch 2013 beschied Fernández de Kirchner Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass der Mercosur kein Abkommen anstrebe, das den eigenen Interessen schade. Nun stehen die Zeichen anders – nach vierjähriger Pause kamen die Unterhändler beider Seiten im Oktober in Brüssel zusammen, eine nächste Verhandlungsrunde ist für den kommenden März in Buenos Aires geplant. Dem Vernehmen nach sind die Südamerikaner den Europäern bereits weit entgegengekommen. Ohne störende Linke wird es dann sicherlich noch harmonischer.

Erschienen am 9. Dezember 2016 in der Tageszeitung junge Welt