Rajoy in Berlin: Staatskrise in Spanien

Auch wenn es Frau Merkel nicht wahrhaben will: Spanien steckt längst nicht mehr nur in einer vorübergehenden Wirtschafts- und Finanzkrise, der man mit Reformen Herr werden kann, auf deren Wirkung man nur geduldig genug warten muß, wie die Bundeskanzlerin am Montag bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy in Berlin herunterbetete. Tatsächlich befindet sich Spanien in einer umfassenden Staats- und Gesellschaftskrise.

Dabei sind die durch Presseberichte aufgeflogenen jahrzehntelangen Schwarzgeldzahlungen an die Spitze von Rajoys Volkspartei (PP) nur noch das Pünktchen auf dem I. Das staatliche Statistikinstitut INE geht von derzeit sechs Millionen Erwerbslosen aus – eine Million mehr als die offiziellen 4980778 Arbeitslosen, die Staatssekretärin Engracia Hidalgo am Montag als offizielle Zahl bekanntgab. Hunderttausende Menschen haben in den vergangenen Jahren ihre Wohnungen per Zwangsräumung verloren, weil sie Kreditzinsen bei den Banken nicht bezahlen konnten – während die selben Banken mit Milliarden Euro Steuergeldern »gerettet« wurden. Die öffentliche Gesundheitsversorgung und die Bildungseinrichtungen werden durch Privatisierung zerschlagen. Und der gesamte Staatsaufbau, der nach dem Tod von Diktator Francisco Franco in den 70er Jahren zwischen den alten und neuen Eliten ausgekungelt worden war, gerät aus den Fugen. Offen wie nie zuvor fordert eine Massenbewegung in Katalonien die Unabhängigkeit von Spanien – ein Schritt, der letztlich zur Auflösung des gesamten Staates führen könnte. Unterdessen hat Spaniens Monarchie sich durch Selbstbedienungsmentalität und Unterschlagungsaffären selbst um die Rolle als Stabilitätsfaktor gebracht, die Juan Carlos in den ersten Jahren der Demokratie vielleicht noch gehabt hat.

Viele Auswege bleiben der herrschenden Klasse offenbar nicht mehr. Sie hat sich für den Rückgriff auf die Polizeistaatsmethoden der Diktatur entschieden. Während Rajoy selbst in Berlin noch einmal alle Vorwürfe als »falsch« zurückwies, droht seine PP Kritikern mit einer Klagewelle. Vor Gericht zerren will die einst von den Eliten der Franco-Diktatur aufgebaute Partei alle, die über Unregelmäßigkeiten in ihren Finanzen informieren. Nicht die Verantwortlichen für die Korruption sollen bestraft werden, sondern die, die darüber berichten. Und wer gegen die Machenschaften der regierenden Klasse demonstriert, bekommt es schnell mit der Polizei zu tun.

Von Merkel gibt es daran keine Kritik. Rajoy exekutiert ja nur, was ihm von Berlin und Brüssel diktiert wird. Doch der Bogen könnte überspannt sein. In Spanien werden Stimmen lauter, die nicht nur einen Rücktritt Rajoys und Neuwahlen fordern, sondern das gesamte Gesellschaftsmodell in Frage stellen. Die Fahnen der Spanischen Republik auf den Großdemonstrationen sind ein Beleg dafür.

Erschienen am 5. Februar 2013 in der Tageszeitung junge Welt