„Wir ku00f6nnen auch anders“

“Die Weltfestspiele sind die wichtigste, repräsentativste und breiteste Aktivität der Jugend- und Studierendenbewegung der ganzen Welt, deren Dimension und Reichweite in der Geschichte kein Beispiel kennt,” sagt Alberto Castelar, Präsident der Bolivarianischen Studierendenvereinigung (FBE) und im venezolanischen Vorbereitungskomitee mit für organisatorische Fragen des Festivals zuständig. Zusammen mit rund 40 weiteren Organisationen, Einrichtungen und Ministerien ist seine Organisation Gastgeber der 16. Weltfestspiele der Jugend und Studierenden, die im August in Venezuela stattfinden werden. Er freut sich darauf, daß unter den erwarteten 20.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Festivals auch viele tausend Studierende sein werden. “In vielen Ländern werden Studiengebühren eingeführt, verschlechtern sich die Lebensbedingungen auch der Studierenden. Wir zeigen, daß ein anderer Weg möglich ist”, erklärt Castelar, warum Venezuela der richtige Austragungsort für die 16. Ausgabe des Festivals ist, das zum ersten Mal 1947 im noch von deutschen Truppen zerstörten Prag stattfand.

In der Tat unterscheiden sich die Bedingungen der venezolanischen Studierenden heute radikal von denen ihrer Kommilitonen. “Niemand darf gezwungen sein, aus wirtschaftlichen Gründen die Schule oder Universität abbrechen zu müssen”, fordert Venezuelas Präsident Hugo Chávez. Als erste Maßnahme wurden Studiengebühren gesetzlich verboten. Mit breit angelegten Kampagnen, den Missionen “Ribas” und “Sucre”, wird Menschen, die keinen Schulabschluß machen konnten oder ihr Studium abbrechen mußten, ermöglicht, ihre Abschlüsse zu machen. Dazu erhalten sie nicht nur auf sie zugeschnittene Unterstützung und Lernmöglichkeiten – so im Rahmen der dezentral organisierten Bolivarianischen Universität –, sondern auch ein bescheidenes monatliches Stipendium. Unter den Professoren und Studierenden der etablierten Universitäten stießen diese Maßnahmen nicht auf Gegenliebe. Wer in der Lage war, ohne nebenbei zu arbeiten viel Geld für Bücher, Unterkunft, Lebensmittel usw. auszugeben, konnte sich in einem elitären Umfeld wohl fühlen. Man blieb unter sich, die Armen bleiben draußen. Doch mittlerweile haben Tausende von Menschen durch die Unterstützung der Regierung und der sie unterstützenden Bewegung ihre Abschlüsse machen können, ganz zu schweigen von den über 1,3 Millionen Menschen, die im Rahmen der Mission “Robinson” überhaupt erst Lesen und Schreiben lernen konnten.

“Venezuela ist ein praktisches Beispiel für die Zurückdrängung der neoliberalen Politik, der Privatisierung öffentlichen Eigentums und Entdemokratisierung, hin zu Bildung, Gesundheit, sozialer Sicherheit und Selbstbestimmung für alle”, heißt es deshalb auch im Aufruf des deutschen Vorbereitungskomitees, das derzeit die Teilnahme von mehreren Hundert Jugendlichen und Studierenden aus der Bundesrepublik an den Weltfestspielen in Venezuela vorbereitet. Die in diesem Komitee mitarbeitenden Studierendenorganisationen wie die AMS oder GEW-Hochschulgruppen freuen sich besonders auf den Meinungs- und Erfahrungsaustausch mit ihren venezolanischen Kommilitonen. Denn von den Entwicklungen in Venezuela läßt sich auch hier eine ganze Menge lernen.

Erschienen in der Uni-Beilage der Tageszeitung „junge Welt“ vom 20. April 2005