Putsch nach bekanntem Drehbuch

Angeblich „ganz spontan“ gehen Unzufriedene auf die Straße, um gegen tatsächliche oder vermeintliche Fehler der Regierung zu protestieren. Plötzlich schlagen die Demonstrationen in Gewalt um, Barrikaden werden errichtet, das öffentliche Leben wird behindert oder ganz zum Stillstand gebracht. Die Forderungen radikalisieren sich, letztlich geht es nur noch um den Rücktritt der Regierung. Internationale Medien berichten voller Sympathie über die „friedlichen Demonstranten“, während ausländische Regierungen „beide Seiten“ zum Dialog aufrufen, aber letztlich die Regierung des Landes für die Gewalt verantwortlich machen.

 

Dieses Drehbuch erleben wir nun auch – einmal mehr – in Venezuela. Angefangen hatte es Anfang Februar zunächst mit einer Demonstration von Angestellten oppositioneller Tageszeitungen, die sich darüber beklagten, dass für sie zu wenig Papier zur Verfügung stehe. Es folgten Proteste von Studentengruppen, die von den Oppositionsparteien und rechten Medien lautstark unterstützt  wurden. Die Demonstration am 12. Februar eskalierte jedoch, als vermummte Teilnehmer nach Abschluss der Kundgebung versuchten, das Gebäude der Staatsanwaltschaft im Zentrum der Hauptstadt Caracas zu stürmen. Es fielen Schüsse, durch die am Ort des Geschehens zwei junge Männer getötet wurden. Mehrere Stunden später starb bei einem weiteren Protest ein dritter Mann.

Das war der Auftakt für eine seither anhaltende Serie von Protesten, bei denen es inzwischen nur noch um den Rücktritt des Präsidenten Nicolás Maduro geht. Dass dieser erst im vergangenen April demokratisch gewählt wurde, spielt keine Rolle. Dass das Regierungslager bei den Kommunalwahlen im vergangenen Dezember einen eindrucksvollen Sieg feiern konnte, interessiert ebenfalls nicht. Und dass Umfragen der venezolanischen Meinungsforschungsinstitute nach wie vor eine Mehrheit für Maduro ergeben, stört nur.

Die Massenmedien in den USA, Europa und Lateinamerika haben sich auch in diesem Fall zum Sprachrohr der rechten Opposition gemacht. Breit bilden ARD, ZDF und Privatsender die Proteste in Venezuela ab. Dabei fällt ihnen kaum auf, dass sie oft nur brennende Barrikaden zeigen können, die von lediglich einer Handvoll Jugendlicher verteidigt werden – und denen oftmals die Sicherheitskräfte nur zugucken, solange die Aktion nicht aus dem Ruder läuft. Die Großdemonstration von Arbeitern, Frauen oder älteren Venezolanern, die gegen die Gewalt und für die Regierung auf die Straße gehen, finden nur am Rande statt.

Tatsächlich ist Venezuela in den meisten Teilen des Landes völlig ruhig. Die Randale spielt sich fast ausschließlich in den wohlhabenden Mittelschichtsvierteln im Osten von Caracas ab. Ein weiterer Schwerpunkt ist der an Kolumbien grenzende Bundesstaat Táchira mit der Hauptstadt San Cristóbal. Deren Bürgermeister wurde erkannt, als er selbst mit Tüchern vermummt an den Krawallen in seiner Stadt teilnahm.

An anderen Orten kommt es hingegen nur vereinzelt zu Protesten oder „Guarimbas“, wie die Straßenblockaden mit brennenden Autoreifen in Venezuela genannt werden. Von Streiks der Arbeiter ist nichts zu hören, und auch aus den Sicherheitskräften sind keine Anzeichen für Spannungen bekannt.  Trotzdem hat die von Präsident Maduro als Putschversuch bezeichnete Kampagne der Rechten bis Montag mindestens elf Menschenleben gekostet. Über das bis dahin letzte Todesopfer informierte Maduro am vergangenen Sonntag bei einer Demonstration von älteren Venezolanern. Der junge Danny Vargas sei in Táchira von einer Person erstochen worden, die sich über die zahlreichen Blockaden aufgeregt habe.

Oppositionsmedien machen die Regierung pauschal für alle Todesopfer verantwortlich. Doch eine Analyse der Zeitschrift „Questión“ wirft ein anderes Blick auf die Vorfälle. So war der erste Tote, der 40 Jahre alte Juan Montoya, ein bekannter Aktivist der sozialen Bewegungen in dem für seine kämpferischen Traditionen bekannten Stadtviertel 23 de Enero. Er wurde am 12. Februar auf der Avenida Candelaria im Zentrum von Caracas ermordet. Kurz nach ihm starb der 24-jährige Bassil Dacosta, der einen Bekannnten auf die Oppositionsdemonstration begleitet hatte. Medienberichten zufolge wurden beide aus der selben Waffe erschossen, verhaftet wurde deswegen offenbar ein Beamter des Geheimdienstes SEBIN, der sich entgegen aller Anordnungen am Ort des Geschehens aufgehalten hatte. Geheimdienstchef Manuel Gregorio Bernal war unmittelbar darauf von Präsident Maduro seines Amtes enthoben worden. Das dritte Todesopfer des Tages war der 28-jährige Roberto Redman, der einige Stunden später bei einer Protestaktion im Mittelschichtsviertel Chacao von einem Motorrad aus erschossen wurde. Ein Zusammenhang wird vermutet, die Hintergründe der Tat sind jedoch bislang nicht aufgeklärt.

In Cumaná im ostvenezolanischen Bundesstaat Sucre starb der 17-jährige José Ernesto Méndez, nachdem er während einer Straßenblockade von einer anderen Person zusammengeschlagen worden war. Ob der Zwischenfall in direktem Zusammenhang mit dem Protest stand, ist unklar, doch Maduro zählt den Jugendlichen zu den Opfern der Gewaltwelle. Ebenso wie das 22-jährige Fotomodell Génesis Carmona, die in Valencia während einer Oppositionsdemonstration erschossen wurde. Ursprünglich hatten die Medien sozialistische Gegendemonstranten für das Verbrechen verantwortlich gemacht, doch ballistische Untersuchungen ergaben, dass die junge Frau von hinten – aus den eigenen Reihen der Oppositionellen – erschossen wurde. Während der Fall Carmonas, die 2013 zur „Miss Tourismus Carabobo“ gewählt worden war, große Aufmerksamkeit erregte, berichtete kaum eine Zeitung über den Tod des 36-jährigen Stahlarbeiters Ángel Castillo. Er wurde aus einem nahe gelegenen Gebäude heraus erschossen, als er sich gerade mit seinen Kollegen aus einer Demonstration für die Regierung löste. Ebenso verschwiegen die meisten Medien den Tod des 54 Jahre alten Arturo Alexis Martínez, einem Bruder des sozialistischen Parlamentsabgeordneten Armando Martínez. Er wurde erschossen, als er in Barquisimeto gerade versuchte, zu einer Barrikade aufgehäufte Abfälle zur Seite zu räumen, um mit seinem Auto die Straße passieren zu können.

„Zusammengefasst ist klar, dass keiner der Todesfälle, die sich in den vergangenen Tagen in Venezuela ereignet haben, auf Aktionen der dämonisierten bewaffneten ‚Colectivos‘ des Chavismo zurückgeführt werden kann“, kommentiert „Questión“ die Ergebnisse der Analyse. „Colectivos“ werden die unzähligen Basisgruppen genannt, die sich vor allem in den ärmeren Vierteln der Städte organisiert haben. Viele von ihnen leisten freiwillige soziale Arbeit, zum Beispiel Gesundheitsaufklärung, bieten Sportveranstaltungen oder Musik an und kümmern sich um die Verschönerung ihrer Stadtteile. Viele dieser Gruppen verstehen sich aber auch als revolutionär links, manche auch durchaus als kommunistisch, und kritisieren die Regierung, wenn sie nicht hart genug gegen die Rechte vorgeht. Die „Colectivos“ bilden so zusammen mit kämpferischen Gewerkschaften, der Kommunistischen Partei PCV und anderen revolutionären Kräften den linken Flügel der bolivarischen Bewegung Venezuelas. Deshalb sind sie von der rechten Opposition zum Hauptfeind erklärt worden.

Gegen diese Spaltungsversuche der Putschisten hat die PCV zu einer Stärkung der Einheit der revolutionären Kräfte und zu einer ideologischen und politischen Debatte aufgerufen, um das gemeinsame Handeln zu vertiefen. „Wir sind ein freies, souveränes, unabhängiges Land und haben auf allen Ebenen angeprangert, dass gegen unsere Nation ein vom US-Imperialismus entwickelter Destabilisierungsplan abläuft“, warnte der kommunistische Parlamentsabgeordnete Yul Jabour. Letztlich habe diese Kampagne Washingtons gegen Venezuela begonnen, als Hugo Chávez vor 15 Jahren sein Amt als Präsident des südamerikanischen Landes antrat, erinnerte Jabour unter anderem an die Verwicklung der USA in den Putsch vom April 2002.

Erschienen am 28. Februar 2014 in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit