Präventive Polizeigewalt

In mehr als 80 Städten Europas haben am Wochenende Zehntausende Menschen gegen die Kürzungspolitik der Regierenden sowie der Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds demonstriert. Tausende gingen in Madrid, Barcelona, Lissabon, Frankfurt am Main, Toulouse und anderswo auf die Straße. Hinzu kommen die sich zu einem Volksaufstand auswachsenden Proteste in Istanbul, Ankara und vielen anderen Teilen der Türkei.

 

Oft war die Beteiligung an den Demonstrationen zwar geringer als erwartet, blieben die Kundgebungen kleiner als frühere Aktionen. Doch die unverhältnismäßige Reaktion der Sicherheitskräfte, die viele der Teilnehmer überrumpelt hat, verrät die wachsende Nervosität der Regierenden – und kann zu dem berühmten Funken werden, der das Pulverfaß explodieren läßt.

Die Bilder prügelnder Polizisten in Istanbul und in Frankfurt gleichen sich – und sie gleichen den Knüppelorgien vergangener Monate in Madrid oder Athen. Die propagandistische Rechtfertigung der Gewalt gegen die Demonstranten übernahmen bisher die großen Massenmedien, wenn sie von »jugendlichen Randalierern« berichteten – und zum Beispiel im Fall Spaniens die Verhaftung streikender Gewerkschafter sowie die Einschränkung des Demonstrationsrechts und der Meinungsfreiheit totschwiegen. Am Wochenende zeigte man sich im Fernsehen empört über die exzessive Gewalt in der Türkei – und zugleich betont sachlich-distanziert in der Berichterstattung aus Frankfurt. Natürlich waren es vermummte Teilnehmer, die den Polizeieinsatz provoziert hatten – davon, daß die Sicherheitskräfte sich offensichtlich auf direkte Weisung aus Wiesbaden über die richterliche Erlaubnis der Demonstration hinweggesetzt haben, war wenig zu hören.

Doch immer mehr Menschen wird bewußt: Wenn es gegen die Kräfte geht, die den europäischen Kapitalismus tatsächlich beherrschen, endet die Demokratie. Die Friedensnobelpreisträgerin EU versteckt sich hinter ihren Uniformierten, um den sonst so oft beschworenen »Souverän« in die Schranken zu weisen.

Natürlich gibt es von Ort zu Ort eigene Gründe, auf die Straße zu gehen. Doch wie es in Istanbul längst nicht mehr um ein paar Bäume geht, die einem Einkaufszentrum weichen sollen, geht es auch anderswo längst um Grundsätzlicheres. Wo es keinen Unterschied mehr macht, ob eine Merkel oder ein Steinbrück in Berlin und in der EU das Kommando hat und Sozialabbau verordnet, werden herkömmliche Befriedungsstrategien brüchig.

Noch ist zu erwarten, daß demnächst wieder Ruhe einkehrt. Doch in den Glaspalästen von Frankfurt, in den Bürokratenbunkern von Brüssel und in den europäischen Hauptstädten ist man sich nicht mehr sicher, ob dies beim nächsten oder übernächsten Mal auch noch so sein wird. Das ist ein Grund für den Knüppelbefehl.Und das ist ein Grund für die Diskussionen um Bundeswehreinsätze im Inneren, Bundestrojaner, Ausbau der Kameraüberwachung öffentlicher Plätze usw. Sie wissen, was ihnen blühen könnte.

Erschienen am 3. Juni 2013 in der Tageszeitung junge Welt