Polizeischutz für einen Stein

Wenn Polizisten in Berlin mit Steinen zu tun haben, geht es für sie selten so gemütlich ab wie für das halbe Dutzend Beamten, die Ende Juni im Tiergarten eine kleine Kundgebung beobachteten. An einem großen Findling hatte sich eine kleine Gruppe venezolanischer Studenten und deutscher Unterstützer versammelt, um die Rückführung des Steines nach Venezuela zu fordern.

An dem roten Stein, der mit anderen Findlingen auf einer Wiese unweit des Brandenburger Tors steht, entzündet sich seit Jahren ein heftiger Streit, der inzwischen das Auswärtige Amt und die venezolanische Regierung auf den Plan gerufen hat. Der 35 Tonnen schwere Felsbrocken ist Teil des „Global Stone“-Projekts des Künstlers Wolfgang Kraker von Schwarzenfeld. Dieser beschreibt sein esoterisch anmutendes, auf den Tag der Sommersonnenwende anspielendes Vorhaben auf seiner Homepage: „Auf jedem Kontinent werde ich zwei durch Material, Form oder Herkunft besonders charakteristische Steine von ca. 30 t suchen. Ich werde sie bearbeiten und zu einem Gesamtprojekt verbinden. Einer der beiden Geschwister-Steine verbleibt im Land seiner Herkunft. Der zweite Stein geht auf die Reise nach Deutschland. … Alle Steine werden geformt, poliert und beschriftet. Die Steine in den fünf Kontinenten liegen mit ihrer Spiegelfläche in einem Winkel zur Sonne, so dass sie am 21. Juni das Licht zurück zur Sonne reflektieren und es in einer Frequenz von 16 Minuten um die Erde zu ihren Schwestersteinen nach Berlin senden. Dort liegen die Steine aus den fünf Kontinenten im Kreis. Ihre spiegelnden Flächen zueinander sind so ausgerichtet, dass zwischen den Steinen fünf unsichtbare Linien aus Licht entstehen.“

Der Stein aus Venezuela wurde 1998 aus dem Siedlungsgebiet der Pémon-Indígenas im Canaima-Nationalpark nach Deutschland gebracht. Für die Bergung hatte sich Schwarzenfeld die Genehmigung eines Angestellten der Nationalparkverwaltung Inparque besorgt, der ihm den Brocken als „Geschenk an das deutsche Volk“ überließ. Dazu habe er kein Recht gehabt, urteilt heute das Institut für das kulturelle Erbe (IPC) Venezuelas. Bereits 1998 war es offenbar zu Protestaktionen der Pémon gekommen, die den Abtransport des ihnen als „Kueka“ verehrten Steins verhindern wollten. Daraufhin hielt die Nationalgarde den Brocken zwei Monate lang fest, letztlich konnte sich Schwarzenfeld jedoch durchsetzen. „Dies stellt eine Respektlosigkeit gegenüber dem Volk und der Kultur der Pémon dar“, kritisiert das IPC, „denn für diese handelt es sich um die Entführung, Folterung und Ermordung eines Heiligen ihrer Gemeinschaft und um eine Wiederauflage kolonialistischer Praktiken der Vergangenheit“. Hintergrund ist eine Legende der Pémon. Dieser zufolge sind der nach Berlin gebrachte Stein und ein ähnlicher Brocken, der in Venezuela geblieben ist, eigentlich ein Liebespaar. Vor langer Zeit habe sich ein Junge aus einem Stamm der Pémon in ein Mädchen verliebt, das einer verfeindeten Sippe angehörte. Der von den Indígenas als Schöpfer der Welt verehrte Gott Makunaima habe eine Hochzeit der beiden verboten. Diese hätten das Verbot jedoch missachtet, woraufhin sie zur Strafe in Stein verwandelt worden seien. Durch den Abtransport des einen Steins nach Berlin sei das Liebespaar auseinandergerissen worden.

Für Schwarzenfeld ist das alles eine Erfindung von Hugo Chávez, um ihn zu ärgern. „Die Behauptung vom heiligen Stein ist eine Zwecklüge“, behauptet er auf seiner Homepage. „Natürlich können nicht alle Pémon diese komplizierten Zusammenhänge durchschauen. … Noch weniger können sie durchschauen, dass sie heute für politische Interessen instrumentalisiert werden.“ Es gebe gar keine entsprechende Legende der Pémon, der Stein sei den Indigenen sogar völlig unbekannt. Bereits im vergangenen Jahr hatte jedoch der „Spiegel“ in einem längeren Beitrag über den Konflikt berichtet und Pémon befragt, die die Geschichte um den Stein bestätigten: „Der Deutsche hat unsere Großmutter entführt.“ Ende Juni demonstrierten zudem Hunderte Pémon vor der deutschen Botschaft in Caracas und forderten von der Bundesregierung die Rückgabe des Steins.

Die zeigt sich inzwischen gesprächsbereit. Außenamtssprecher Andreas Peschke erklärte am 25. Juni bei der Bundespressekonferenz, die Regierung sei sich „des Problems sehr wohl bewusst und versucht, im Gespräch mit allen Beteiligten eine einvernehmliche Lösung zu vermitteln“. Um dies zu konkretisieren, hielt sich in dieser Woche IPC-Präsident Raúl Grioni zu Gesprächen in Berlin auf. Venezuela ist bereit, die Kosten für den Rücktransport zu übernehmen und Berlin einen anderen Stein als Ersatz zur Verfügung zu stellen. Wenig einsichtig zeigt sich jedoch Schwarzenfeld, der inzwischen von Caracas eine Million Euro verlangt, die in eine von ihm zu gründende Stiftung „zur Integration von Minderheiten und zur Wiederaufforstung“ fließen sollen. Die umfangreichen Projekte und Missionen der venezolanischen Regierung in diesem Sinne sind dem Herrn offenbart völlig unbekannt.

Erschienen am 6. Juli 2012 in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit