Opposition überrollt

Nach dem gescheiterten Putschversuch sind in der Türkei innerhalb einer Woche mehr als 10.000 Menschen festgenommen worden. Gegen 4.060 von ihnen sei Haftbefehl erlassen worden, erklärte Staatschef Recep Tayyip Erdogan am Freitag in Ankara. Künftig solle der 15. Juli im Gedenken an die Opfer der Militärrevolte als »Tag der Märtyrer« begangen werden, ordnete er an. Der neue Feiertag werde dafür sorgen, »dass künftige Generationen niemals die heldenhaften Zivilisten, Polizisten und Soldaten vergessen werden, die demokratischen Widerstand geleistet haben«.

In mehreren Städten der Türkei demonstrierten am Freitag erneut Tausende Menschen ihre Unterstützung für das Regime und folgten damit einem Aufruf Erdogans, der seine Landsleute in einer an bis zu 68 Millionen Empfänger versandten SMS aufgefordert hatte, die Straßen nicht zu verlassen. Auch für den späteren Abend wurden große Kundgebungen des Regierungslagers erwartet. Oppositionelle Kräfte warnen indes, dass mit der Mobilisierung nicht die Verteidigung der Demokratie, sondern ganz andere Ziele erreicht werden sollen. Schon bei vorherigen »Demokratiemärschen« seien zahlreiche Banden durch kurdisch-alevitisch geprägte Stadtviertel in Istanbul und Ankara gezogen und hätten ganze Straßenzüge verwüstet, warnte die Kurdische Gemeinde Deutschland in einer Pressemitteilung. Es sei »mehr als fraglich«, ob die Demonstranten »tatsächlich für eine Demokratie nach europäischem Vorbild« auf die Straße gingen, »oder hier islamisch-konservative sowie türkischnationale Werte« verteidigten.

Auch in der Bundesrepublik hatten mutmaßliche Anhänger Erdogans und der neofaschistischen »Grauen Wölfe« Einrichtungen attackiert, die sie der Bewegung des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen zurechneten. So wurde einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters zufolge ein Jugendtreff in Gelsenkirchen angegriffen. Linke, kurdische und alevitische Einrichtungen wurden bedroht. In dieser Situation haben kurdische Gruppen zu Demonstrationen in zahlreichen deutschen Städten aufgerufen. In ihrem Aufruf distanzieren sie sich von dem versuchten Staatsstreich. Dieser sei im Kern Teil eines Machtkampfs zwischen verschiedenen Gruppen des herrschenden Apparats, deren gemeinsames Ziel aber ein »Genozid« an der kurdischen Bevölkerung sei. Hintergrund für die Kundgebungen unter anderem in Berlin, Hamburg, Nürnberg und Dortmund ist die Forderung nach der Freilassung des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan, der seit 16 Monaten auf der Gefängnisinsel Imrali in Isolationshaft gehalten wird. Nach dem Putschversuch und der Zuspitzung der Lage durch Erdogan fürchten Öcalans Anhänger um dessen Leben.

In der Türkei, wo die linken Kräfte von den Ereignissen zunächst überrollt worden waren, bemühen sie sich inzwischen um ein Ende der Sprachlosigkeit. Der Gewerkschaftsbund DISK warnte in einem am Freitag veröffentlichten Statement, dass der Ausnahmezustand zu einer weiteren Verarmung der Arbeiter führen werde, ohne dass diese auf der Straße, vor Gericht oder im Parlament Widerstand leisten könnten. Am selben Tag verbreitete die kurdische Nachrichtenagentur ANF einen Aufruf des Exekutivkomitees der illegalen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Das kurdische Volk und die demokratischen Kräfte der Türkei sollten einen Block bilden, um sich gemeinsam gegen Staatsstreiche, aber auch gegen die Politik der herrschenden Oligarchie zu stellen, hieß es darin.

Erschienen am 23. Juli 2016 in der Tageszeitung junge Welt