junge Welt, 3.11.2016

Ohrfeige für Oettinger

Von einem »verblüffenden Überlegenheitsgefühl« sprach die Vertreterin des chinesischen Außenministeriums in Beijing am Mittwoch, als sie von Journalisten auf die Äußerungen des deutschen EU-Kommissars Günther Oettinger angesprochen wurde, die am Wochenende bekanntgeworden waren. »Wir hoffen, dass sie lernen, sich selbst und andere objektiv zu betrachten und andere zu respektieren und als Gleichberechtigte zu behandeln«, wurde Hua Chunying von der Nachrichtenagentur AFP zitiert. Oettinger, der zwischen 2005 und 2010 Ministerpräsident von Baden-Württemberg war, hatte bei einem Vortrag vor Unternehmern in Hamburg von »Schlitzohren und Schlitzaugen« gesprochen. Die Chinesen sähen aus, als hätten sie »alle Haare von links nach rechts mit schwarzer Schuhcreme gekämmt«. Später spielte er seine Ausfälle als »saloppe Äußerungen« herunter.

Schon einmal ging ein deutscher Spitzenpolitiker mit solcherart saloppen Äußerungen in die Geschichte ein. »Die Chinesen haben das Völkerrecht umgeworfen«, verkündete am 27. Juli 1900 in Wilhelmshaven der deutsche Kaiser Wilhelm II. Vor Soldaten, die zur Niederschlagung des »Boxeraufstands« gegen die Kolonialherren nach China geschickt wurden, erklärte er: »Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht. Führt eure Waffen so, dass auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen.« In den Geschichtsbüchern haben diese Worte als »Hunnenrede« Eingang gefunden – und die koloniale Unterdrückung durch europäische und japanische Besatzer ist in China bis heute unvergessen.

Auch deshalb reagierte man in Beijing gereizt auf die Provokation der deutschen Bundesregierung, unmittelbar vor einem Besuch von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel in der Volksrepublik den handelspolitischen Kurs gegenüber der Volksrepublik zu verschärfen – zumal die Gleichzeitigkeit mit Oettingers Ausfällen nicht unbedingt als Zufall verstanden wurde. Der schwergewichtige Staatsgast wurde von den Gastgebern als Leichtgewicht behandelt. In den chinesischen Medien fand der Besuch kaum Niederschlag. So verbreitete die deutschsprachige Internetseite der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua am Mittwoch die Meldung, Peng Liyuan, die Ehefrau des chinesischen Präsidenten Xi Jinping, habe in Beijing deutsche Oberstufenschüler und Lehrer getroffen. Der Besuch Gabriels fand dagegen auf den vorderen Plätzen nicht statt.

Die deutschsprachige Internetausgabe des Zentralorgans der KP Chinas, People’s Daily, veröffentlichte bereits am Dienstag einen Kommentar zu Gabriels Besuch: »Es fällt nicht leicht, Gabriels Beschwerden über China zu verstehen. Laut Daten der chinesischen Botschaft in Deutschland gibt es nicht weniger als 8.200 in China tätige deutsche Unternehmen, während nur 2.000 chinesische Unternehmen in Deutschland aktiv sind. Die chinesischen Investitionen in Deutschland betragen nur ein Zehntel der deutschen Investitionen in China. Wenn es keine politischen Vorurteile sind, wie sonst können wir die Krisenstimmung einiger Deutscher aufgrund chinesischer Übernahmen erklären?« Und weiter: »Gabriel sollte sich davor hüten, die chinesisch-deutschen Beziehungen entgleisen zu lassen.«

In der Bundesrepublik muss man sich offenbar erst daran gewöhnen, dass sich das asiatische Riesenreich nicht mehr mit der Rolle als »verlängerter Werkbank des Westens« zufriedengibt, sondern auf Augenhöhe seine Interessen vertritt.

Erschienen am 3. November 2016 in der Tageszeitung junge Welt