Offener Ausgang

Wenige Wochen vor den am 6. Dezember stattfindenden Parlamentswahlen in Venezuela schwirren wieder einmal Gerüchte durch das südamerikanische Land. So wundern sich die Einwohner von Caracas, warum die Opposition kaum sichtbar Wahlkampf macht. Spekuliert wird darüber, dass radikale Regierungsgegner Sabotageakte vorbereiten, um am Wahltag durch einen landesweiten Stromausfall den Abbruch des Urnengangs zu provozieren. Für einen Überfall vermummter Täter auf eine Stromversorgungseinrichtung in dem an der Grenze zu Kolumbien gelegenen Bundesstaat Táchira machte Venezuelas Präsident Nicolás Maduro in der vergangenen Woche direkt das »Southern Command« (Southcom) der US-Streitkräfte verantwortlich. Zugleich erklärte er die Opposition und die privaten Medien zu »Komplizen« der Terroristen, weil sie die Taten verschweigen und verharmlosen würden. Sprecher des wichtigsten Oppositionsbündnisses MUD (Tisch der nationalen Einheit) wiesen das zurück. Sie werfen ihrerseits der Regierung vor, mit Gewalt gegen ihre Widersacher vorzugehen und einen Wahlbetrug vorzubereiten. »Wir liegen 30 Prozentpunkte vorn. Es ist unmöglich, dass die Regierung gewinnt«, sagte der ehemalige Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles, der 2012 Hugo Chávez und 2013 Nicolás Maduro unterlegen war.

Tatsächlich erscheint der Ausgang der Wahlen jedoch offener, als es die Sprecher des rechten Lagers darstellen. Die meisten Umfragen sagen zwar eine deutliche Stimmenmehrheit der Opposition voraus, allerdings sah im Gegensatz dazu die jüngste Prognose des Instituts ICS das Regierungslager vorn. Eine genaue Vorhersage der Sitzverteilung im 167 Abgeordnete zählenden Parlament ist wegen des in Venezuela geltenden Wahlrechts schwierig. Einige dünner besiedelte Bundesstaaten sind im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl stärker in der Nationalversammlung vertreten als die großen Zentren wie Caracas oder Maracaibo. Davon profitierte schon bei den letzten Wahlen 2010 das Regierungslager. Damals hatten die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und ihre Verbündeten 48,13 Prozent der Stimmen erhalten, während die MUD mit 47,22 Prozent nur knapp dahinterblieb. In Sitzen fielen der PSUV jedoch 98 Mandate zu, die MUD erreichte 65.

Ohnehin sind Parlamentswahlen in der venezolanischen Präsidialdemokratie von geringerer Bedeutung als in anderen Ländern. Deshalb warnte ICS-Chef Pedro Sotillo in der staatlichen Tageszeitung Correo del Orinoco bereits davor, die Bedeutung der Abstimmung zu überschätzen. Die Darstellung der Wahlen als ein Plebiszit über die Regierung sei »gefährlich« und werde vor allem Enttäuschung provozieren, »denn wenn die Ergebnisse bekannt sind, wird es im Land mehr oder weniger gleich weitergehen«.

Diesmal treten nicht nur zwei, sondern vier Allianzen gegeneinander an. Im »Großen Patriotischen Pol« (GPP) haben sich die PSUV, die Kommunistische Partei (PCV), »Heimatland für alle« (PPT) und kleinere Kräfte zusammengeschlossen. Die MUD versammelt die größeren Oppositionsparteien unter ihrem Logo, darunter die von der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützte »Primero Justicia« und die sich als sozialdemokratisch verstehende »Acción Democrática«. Beide Blöcke mussten jedoch ein Abbröckeln an ihren Rändern hinnehmen. Auf der rechten Seite haben sich kleine Oppositionsparteien, die sich von den vorherrschenden Kräften der MUD ausgegrenzt fühlten, zu einer »Großen Nationalen Alternativen Allianz« (GANA) zusammengeschlossen. Am linken Rand des politischen Spektrums haben sich einige vorwiegend trotzkistisch orientierte Organisationen mit enttäuschten Exmitgliedern der PSUV zur »Patriotischen Republikanischen Allianz« (APR) vereinigt. Sie hoffen darauf, von der verbreiteten Unzufriedenheit profitieren zu können. Allerdings sind in Venezuela bislang alle Versuche gescheitert, bei Wahlen eine linke Alternative zum »Patriotischen Pol« zu bilden. Zuletzt hatten Orlando Chirino und seine Partei »Sozialismus und Freiheit« bei der Präsidentschaftswahl 2012 ein solches Fiasko hinnehmen müssen. Chirino kam damals nur auf 0,02 Prozent der Stimmen.

Erschienen am 23. November 2015 in der Tageszeitung junge Welt