Nur Touristen

Die Verhaftung von acht Kolumbianern in den venezolanischen Bundesstaaten Aragua und Barinas belastet erneut die Beziehungen zwischen den beiden südamerikanischen Nachbarstaaten. Venezuelas Innenminister Tareck El Aissami hatte am Dienstag darüber informiert, daß bereits vor Ostern im Süden von Aragua zunächst zwei Männer in der Nähe eines Kraftwerks festgenommen wurden, als sie Fotos von verschiedenen Einrichtungen des venezolanischen Stromversorgungsnetzes machten. Die weiteren Ermittlungen führten dann zur Verhaftung von sechs weiteren Personen in Barinas, die der Militärstaatsanwaltschaft von Aragua überstellt wurden. Bei zwei der Verhafteten wurden später offenbar Dienstausweise der kolumbianischen Armee gefunden.

Kolumbien soll aufklären

Venezuelas Präsident Hugo Chávez forderte daraufhin die Regierung des Nachbarlandes auf, die Hintergründe des Vorgangs aufzuklären. »Ich beschuldige weder die Regierung noch die Armee, denn das könnte falsch sein, aber das muß Kolumbien aufklären«, sagte Chávez während einer vom staatlichen Fernsehen übertragenen Kabinettssitzung. Die acht Personen seien im Land herumgefahren und hätten Fotos von unzähligen Kraftwerken gemacht. In ihrem Gepäck seien Computer und Satellitentelefone entdeckt worden, so der Präsident weiter. Einer der Verhafteten, dessen Name mit Luis angegeben wurde, habe ausgesagt, Arzt zu sein und mehrere Jahre in den kolumbianischen Streitkräften gedient zu haben. Nach seiner Zeit bei der Armee sei er dann nach Kanada gegangen, um anschließend nach Venezuela zu kommen. Das seien »sehr merkwürdige Bewegungen«, stellte Chávez fest. »Wer weiß, wie viele Stromausfälle das Ergebnis von Sabotage sind. Deshalb haben wir die Bewachung dieses Bereichs verstärkt.«

Venezuela leidet seit Monaten unter Problemen bei der Energieversorgung. Durch eine anhaltende Dürre ist der Wasserspiegel in den Stauseen dramatisch gesunken. Obwohl sich die Lage derzeit offenbar allmählich entspannt, kündigte Alí Rodríguez Araque am Donnerstag eine Verlängerung des im Februar verhängten Stromnotstandes an.

Kolumbiens Staatschef Álvaro Uribe kann die Aufregung im Nachbarland nicht nachvollziehen und forderte die Regierung in Caracas auf, die »Einhaltung der Menschenrechte« zu garantieren. Die verhafteten Kolumbianer seien lediglich als »Touristen« unterwegs gewesen, und überhaupt sei der festgenommene Arzt bereits 2002 aus den Streitkräften ausgeschieden und dann nach Kanada übergesiedelt, dessen Staatsbürgerschaft er mittlerweile besitze. Derzeit sei er in Venezuela ansässig und arbeite dort als Vertreter eines kleinen Unternehmens. »Wenn Bürger ohne Rechtfertigung und ohne eine Garantie ihrer Menschenrechte verhaftet werden, weil sie Kolumbianer sind, kann die Regierung nicht schweigen«, erklärte Uribe am Mittwoch bei einer Ansprache in Barranquilla im Norden des Landes. Das ist eine der Hauptregionen der rechten Todesschwadronen. Auf deren Konto gingen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International allein zwischen Juni 2007 und Juni 2008 – neuere Zahlen liegen noch nicht vor – 461 Mord. Auch im benachbarten Venezuela haben Menschenrechtsorganisationen wiederholt vor Aktivitäten solcher paramilitärischen Banden gewarnt, die aus Kolumbien kommend vor allem in der Grenzregion, aber auch bereits in den großen Städten aktiv sind.

Warten auf den Nachfolger

Venezuelas Regierung hat die Hoffnung offenbar aufgegeben, die Beziehungen zu Kolumbien noch vor Ende der Amtszeit Uribes normalisieren zu können. Mit Blick auf die am 30. Mai stattfindenden Präsidentschaftswahlen im Nachbarland sagte Venezuelas Außenminister Nicolás Maduro bei einem Besuch in der Dominikanischen Republik, man müsse »darauf warten, daß das kolumbianische Volk entscheidet, wer sein nächster Präsident oder seine Präsidentin sein soll. Unter den sich dann eröffnenden neuen Umständen kann ein Schritt zu Gesprächen unternommen werden, um die Gründe zu überwinden, die zu dem Konflikt mit der gegenwärtigen Regierung Kolumbiens geführt haben«. Er wies die Vorwürfe Uribes zurück, daß Kolumbianer in Venezuela wegen ihrer Staatsangehörigkeit verfolgt würden. Außerdem erinnerte er daran, daß erst unter Chávez Tausende in Venezuela lebende Kolumbianer ihren Aufenthaltsstatus legalisieren konnten, die von den Vorgängerregierungen »verfolgt und diskriminiert« worden seien.

Erschienen am 9. April 2010 in der Tageszeitung junge Welt