junge Welt, 4. Mai 2015

»Nie wieder!«

junge Welt, 4. Mai 2015In Dachau ist am Sonntag an die Befreiung des dortigen Nazi-Konzentrationslagers vor 70 Jahren erinnert worden. Zum ersten Mal, seit die US-Truppen hier 1945 der Barbarei ein Ende stzten, nahm das Oberhaupt einer deutschen Bundesregierung an der jährlichen Gedenkveranstaltung teil. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dankte in ihrer Ansprache den Überlebenden dafür, dass sie als Zeitzeugen verhindert hätten, dass »das unendliche Leid, das Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus über Sie gebracht hat«, in Vergessenheit geraten sei. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) sagte, Dachau sei in Deutschlands dunkelster Zeit zu einem Synonym des Schreckens geworden: »Freiheit und Demokratie brauchen Erinnerung. Die Erinnerung an unvorstellbares Leid mündet in das Bekenntnis: nie wieder!«

»Mich freuen diese Worte«, sagte Harald Munding vom bayerischen Landesvorstand der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) im Gespräch mit junge Welt. »Sie wären aber glaubwürdiger, wenn die bayerische Landesregierung nicht gleichzeitig versuchen würde, unsere Organisation finanziell zu erdrosseln.« Unter Berufung auf die Erwähnung der VVN-BdA im Verfassungsschutzbericht will der Freistaat der von Überlebenden des faschistischen Terrors gegründeten Organisation die Gemeinnützigkeit entziehen. »In Bayern wird noch immer ein vergessener Kalter Krieg geführt«, so Munding. Er hatte nicht an der offiziellen Gedenkfeier im früheren Konzentrationslager Dachau teilgenommen, sondern war mit rund 150 weiteren Menschen zu dem etwa anderthalb Kilometer entfernten ehemaligen Schießstand der SS in Hebertshausen gekommen. Hier hatten die Nazis Tausende sowjetische Kriegsgefangene erschossen.
junge Welt drei Wochen gratis

»Die Faschisten haben den Vernichtungskrieg gegen den ›Bolschewismus‹ auch in Deutschland geführt, durch die systematische Ermordung von Funktionären der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Politkommissaren der Roten Armee, Angehörigen der russischen Intelligenz und Juden«, erinnerte Ernst Grube, stellvertretender Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau, an die Verbrechen. »Doch der Kampf gegen den ›Bolschewismus‹ war auch nach 1945 nicht beendet«, fuhr er fort und erinnerte daran, wie von den Nazis verfolgte Kommunisten und andere Linke auch später in der Bundesrepublik Opfer von Unterdrückung und Willkür wurden.

Ein Beispiel für die Missachtung der Verbrechen an den Völkern der damaligen Sowjetunion ist Hebertshausen. In den Jahrzehnten nach dem Krieg hatte die bayerische Landesregierung das Gelände verkommen lassen. Bäume und Gestrüpp wuchsen über den Bunkern und Schießanlagen. Ein 1964 vom Künstler Will Elfers errichteter Gedenkstein wurde von den Behörden umgehend entfernt, Hinweistafeln zum Gelände wurden beseitigt, die Schießbunker ließ man verfallen. Es blieb linken Organisationen wie VVN, DKP und SDAJ sowie Friedensinitiativen vorbehalten, Jahr für Jahr die Erinnerung an die Verbrechen wachzuhalten. Erst im vergangenen Jahr wurde die Gedenkstätte würdig gestaltet. Sträucher wurden gerodet, Gedenktafeln mit historischen Informationen errichtet und ein Denkmal angelegt, auf dem die Namen von bislang 900 Opfern der Erschießungen genannt sind. Insgesamt sollen es 5.000 Opfer gewesen sein.

Erschienen am 4. Mai 2015 in der Tageszeitung junge Welt