Nervenkrieg in Katalonien

Erst Überraschung, dann Entsetzen, dann Verwirrung: Der katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont hat am Donnerstag Anhänger und Gegner der Unabhängigkeitsbewegung über Stunden in ein Gefühlschaos gestürzt. Im Laufe des Tages war in Barcelona durchgesickert, dass der Regierungschef eine Kursänderung vollziehen wollte. Anstelle der von den einen erhofften, von den anderen befürchteten Proklamation einer unabhängigen Republik Katalonien werde Puigdemont das Regionalparlament auflösen und für Dezember Neuwahlen einberufen. Die alternative Nachrichtenagentur Sírius berichtete, dass dies das Ergebnis von Vermittlungsbemühungen des baskischen Lehendakari (Ministerpräsident) Iñigo Urkullu gewesen sei. Dieser habe ausgehandelt, dass der spanische Regierungschef Mariano Rajoy als Antwort auf das Einknicken Puigdemonts auf die Aktivierung des Verfassungsartikels 155 verzichten würde. Die spanische Regierung hatte am vergangenen Sonnabend beschlossen, auf der Grundlage dieses Artikels die Autonomie Kataloniens aufzuheben und alle öffentlichen Institutionen der Region unter die Kontrolle Madrids zu stellen. Für den heutigen Freitag war eine Sitzung des Senats, das spanische Oberhaus, einberufen worden, um diese Entscheidung zu billigen.

In Barcelona lagen die Nerven blank. Die Regierungserklärung Puigdemonts, in der er offenbar die Auflösung des Parlaments verkünden wollte, wurde zunächst für 13.30 Uhr angekündigt, dann um eine Stunde verschoben und dann ganz abgesagt. Statt dessen trat der Ministerpräsident um 17 Uhr vor die Kameras. Dort bestätigte er, dass er wie berichtet zu vorgezogenen Neuwahlen bereit gewesen war. Er habe auf diese Weise auch die letzte Chance für eine Verhandlungslösung ausschöpfen wollen. Da es aber aus Madrid noch immer keine Bereitschaft für Dialog gegeben habe, verzichte er doch auf eine vorzeitige Parlamentsauflösung.

Zuvor hatten führende Vertreter der spanischen Regierung erklärt, dass sie selbst bei Neuwahlen in Katalonien nicht auf die Aktivierung des Artikels 155 verzichten wollten. Lediglich zu einer »Aussetzung« der damit verbundenen Maßnahmen sei man bereit. Damit aber hätte über Katalonien auf unabsehbare Zeit das Damoklesschwert eines drohenden Entzugs der Autonomie gehangen.

Der bisherige Bündnispartner von Puigdemonts liberaler Demokratischer Partei (PDECat), die sozialdemokratische Republikanische Linke Kataloniens (ERC), hatte sich zuvor empört über die Möglichkeit einer vorgezogenen Parlamentsauflösung gezeigt und den Austritt aus der Regierung angekündigt, wenn es dazu kommen sollte.

Die linksradikale Kandidatur der Volkseinheit (CUP), auf deren Stimmen PDECat und ERC im Parlament angewiesen sind, rief für den Abend zu einer Protestkundgebung auf der Plaça de Sant Jaume vor dem Gebäude der katalanischen Regierung auf. Dort hatten sich am Nachmittag bereits Studenten mit Fahnen der Unabhängigkeitsbewegung und der Spanischen Republik versammelt, um gegen den möglichen »Verrat« ihrer Vertreter zu protestieren. Auch vor dem Gebäude der PDECat versammelten sich spontan mehrere hundert Demonstranten. Sie verlangten, das Votum vom 1. Oktober zu respektieren. Bei dem von Madrid nicht anerkannten Referendum hatten 90 Prozent für die Unabhängigkeit gestimmt – bei einer Wahlbeteiligung von 43 Prozent. Die von Madrid befehligten Nationalpolizei und Guardia Civil hatten gewaltsam versucht, die Abstimmung zu verhindern.

Erschienen am 27. Oktober 2017 in der Tageszeitung junge Welt