junge Welt, 21. Oktober 2011

NATO tötet Ghaddafi

junge Welt, 21. Oktober 2011Muammar Al-Ghaddafi ist offenbar tot. Der Chef des selbsternannten »Nationalen Übergangsrates« (NTC), Mahmud Dschibril, bestätigte am Donnerstag den Tod des langjährigen libyschen Staatschefs, der in der umkämpften Stadt Sirte gefangengenommen worden und später seinen Verletzungen erlegen sei. Während die als Sprachrohr des Widerstands gegen NATO und Rebellen auftretende Nachrichtenagentur Al-Mukawama titelte »Ghaddafi lebt und ist entschlossen, das Land von Verrätern und Söldnern zu säubern«, und auch der Fernsehsender Al-Libya die Festnahme dementierte, verbreiteten die Nachrichtenagentur AFP und der Fernsehsender Al-Dschasira Fotos und Videoaufnahmen, die den Leichnam des früheren Staatschefs zeigen sollen.

Die Nachrichtenagentur Reuters zitierte einen Sprecher der NTC-Milizen, Abdel Madschid Mlegta, wonach Ghaddafi gefangengenommen worden sei, als er versucht habe, mit einer Fahrzeugkolonne aus Sirte zu fliehen. Diese sei von NATO-Kampfflugzeugen angegriffen worden, wobei der frühere Staatschef verwundet worden und kurz darauf gestorben sei. Das westliche Militärbündnis, das in den vergangenen Monaten Zehntausende Kampfeinsätze gegen das nordafrikanische Land geflogen hat, bestätigte gegenüber AFP, es habe am Donnerstag morgen einen Autokonvoi in Sirte attackiert. Dabei seien »zwei Militärfahrzeuge der Pro-Ghaddafi-Truppen« bombardiert worden. Die NATO beruft sich bei ihren Luftangriffen nach wie vor auf die UN-Sicherheitsratsresolution 1973, durch die das Bündnis zu Angriffen auf die libyschen Regierungstruppen ermächtigt wurde, um die Zivilbevölkerung des Landes zu schützen. Tatsächlich übernahm die NATO aber die Funktion einer Luftwaffe der Rebellen, die nur durch die so hergestellte Luftüberlegenheit im August Tripolis besetzen konnten.

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Ratspräsident Herman van Rompuy bejubelten Ghaddafis Tod als »das Ende einer Ära des Despotismus und der Unterdrückung«. Libyen könne nun »eine neue Seite seiner Geschichte aufschlagen und eine neue demokratische Zukunft begrüßen«, erklärten sie AFP zufolge. »Erleichtert« reagierte auch die SPD auf den Tod eines Menschen. »Mit dem Ende Ghaddafis ist endgültig der Weg frei für einen politischen Neuanfang in Libyen«, sagte SPD-Fraktionsvize Gernot Erler in Berlin. Der außenpolitische Sprecher der CDU, Philipp Mißfelder, und sein SPD-Kollege Rolf Mützenich sagten dem Fernsehsender Phoenix, Ghaddafis Tod habe gezeigt, daß die Enthaltung Deutschlands im UN-Sicherheitsrat falsch gewesen sei. In London zeigte sich der britische Premierminister David Cameron »stolz« über den Beitrag seines Landes »zur Beendigung von Ghaddafis Regime«. Frankreichs Verteidigungsminister Gérard Longuet nannte den Tod einen »guten Ausgang«. Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi behauptete der italienischen Nachrichtenagentur ANSA zufolge, jetzt sei »der Krieg zu Ende«.

Tatsächlich ist trotz der Siegesfanfaren aus Tripolis und Bengasi ein Ende des Bürgerkriegs in Libyen weiter nicht in Sicht. Al-Mukawama verwies am Donnerstag darauf, daß außer in Sirte– dessen Fall die Agentur dementierte – die »grüne Fahne der Dschamaharija« weiter über Ghat, Ghadames, Tiji, Badr, Al-Harrusch, Al-Kufrah, Tobruk, Al-Baida, Darna, Al-Marri, Al-Biar und vielen kleinen Orten wehe. In diesen Gebieten lebe rund die Hälfte der libyschen Bevölkerung.

Erschienen am 21. Oktober 2011 in der Tageszeitung junge Welt