Nationale Karte

Am 27. September wählen die Katalanen ein neues Parlament. Voraussichtlich am 20. Dezember entscheidet Spanien über die Zusammensetzung des Kongresses. Es herrscht also Wahlkampf – keine gute Zeit für Dialog und Verständigung. Zu erwarten ist eine Zuspitzung der Spannungen.

Der katalanische Ministerpräsident Artur Mas interpretiert die vorgezogenen Regionalwahlen als Plebiszit über die Unabhängigkeit. Wenn sein Lager gewinnt, soll innerhalb von 18 Monaten die Eigenständigkeit des Landes proklamiert werden. Im übrigen Spanien führt dagegen schon jetzt die von Führungskadern der späten Franco-Diktatur gegründete Volkspartei (PP) um Ministerpräsident Mariano Rajoy Wahlkampf mit dem Schreckgespenst eines zerfallenden Spaniens. Dafür holte sich Rajoy am vergangenen Montag in Berlin Rückendeckung bei Bundeskanzlerin Angela Merkel. Doch seine PP trägt die Hauptverantwortung dafür, dass sich die Lage zwischen Madrid und Barcelona so zugespitzt hat.

2006 hatten Katalonien und die damals von der sozialdemokratischen PSOE gestellte Zentralregierung ein neues Autonomiestatut ausgehandelt, das in einem Referendum von 73,2 Prozent der Katalanen angenommen wurde. Die darin enthaltenen, eher symbolischen Bezüge auf Katalonien als »Nation« reichten der PP, um die mühsam ausgehandelten Bestimmungen durch das Verfassungsgericht für illegal erklären zu lassen. Ähnliches passierte 2011, als die bürgerliche Regierung in Barcelona eine Reform der Steuerverteilung zwischen der Region und der Zentrale verlangte, und Madrid substantielle Gespräche darüber ablehnte. Durch ihre Angst, jedes Zugeständnis an die Regionen könnte die Einheit Spaniens gefährden, hat die PP genau diese Gefahr provoziert.

Die Unabhängigkeitskampagne in Katalonien ist eine von breiten Schichten der Bevölkerung getragene Bewegung. Sie hat die in der Region regierende Demokratische Konvergenz (CDC), die traditionell mit einer Autonomie innerhalb Spaniens zufrieden war, gezwungen, auf die separatistische Karte zu setzen. Dabei unterscheiden sich die programmatischen Inhalte der CDC ansonsten kaum von denen der PP. Wie diese setzt die CDC auf die EU, die NATO und auf Sozialabbau zur »Haushaltskonsolidierung«. In den 90er Jahren hatten beide Parteien sogar gemeinsam die spanische Regierung gestellt und in dieser Koalition unter anderem den NATO-Krieg gegen Jugoslawien unterstützt. Mit nationalen Parolen und gegenseitigen Beschimpfungen können nun beide rechtzeitig vor den Wahlen von ihrem unsozialen Charakter ablenken.

Doch die Gleichung hat mehrere Unbekannte. Die Unabhängigkeitsbewegung konnte wiederholt mehrere Millionen Menschen mobilisieren, und von denen misstrauen viele den Machenschaften aller Berufspolitiker. So kann eine ganz eigene Dynamik entstehen. Darauf deutet bereits die wachsende Stärke der linksradikalen und basisverankerten CUP hin. Sie strebt den Austritt Kataloniens aus der EU und der NATO sowie den Aufbau einer sozialistischen Republik an.

Erschienen am 5. September 2015 in der Tageszeitung junge Welt