»Nach 100 Jahren jünger als je zuvor«

Gespräch mit Oscar Aroca, Mitglied der Politischen Kommission des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chiles und deren Verantwortlicher für Gewerkschaftspolitik

Die Kommunistische Partei Chiles feiert am 8. Dezember mit einer Großveranstaltung im Nationalstadion von Santiago de Chile den 100. Jahrestag ihrer Gründung. Welche Rolle spielt die Partei heute?

Wir begehen unseren 100. Geburtstag mit der Erinnerung an alles, was geschehen ist, aber auch mit dem Blick in die Zukunft. Das bedeutet, daß wir nicht nur zurückblicken, sondern uns auch auf die kommenden Kämpfe vorbereiten. Vor dem Hintergrund des großen Aufschwungs der sozialen Bewegungen seit 2011, vor allem der Studentenbewegung, begehen wir unseren Jahrestag in der Hitze der heutigen Kämpfe. In den vergangenen 20 Jahren, seit dem Ende der Diktatur, waren wir durch die Politik der Privatisierungen und des Sozialabbaus das beste Beispiel für das Imperium, für die Vereinigten Staaten. Heute beginnt sich diese Situation umzukehren.

Zu der Bilanz der 100 Jahre gehört für uns der Kampf um die Macht. Es hat Zeiten gegeben, da haben wir um die Macht gekämpft und an ihr teilgehabt, aber wir haben auch schwere Rückschläge hinnehmen müssen, so mit der Errichtung von Konzentrationslagern in unserem Land 1926 und 1946 und mit der Diktatur ab 1973. Es ist dabei den bürgerlichen Kräften gelungen, ihre Ideologie durchzusetzen, das müssen wir anerkennen. Deshalb feiern wir nicht nur 100 Jahre Leben, sondern vor allem, daß wir 100 Jahre in den Reihen des Volkes wirken und kämpfen, mit allen Hoch- und Tiefpunkten, die Teil unserer Geschichte sind.

Vor dem faschistischen Putsch vom 11. September 1973 war die KP Chiles eine echte Massenpartei, die stärkste kommunistische Kraft in Lateinamerika außerhalb Kubas. Welche Stärke, welchen Einfluß hat Ihre Partei heute?

Uns ist es gelungen, eine Post-Diktatur-Organisation aufzubauen, denn die Diktatur hat die gesamte politische Geschichte unseres Landes zerstört, uns mit den »Chicago Boys« das erste neoliberale Experiment unseres Kontinents aufgezwungen und in der Bevölkerung die Botschaft verankert, daß Politik unwichtig ist, daß man sich besser nicht mit der Politik beschäftigt. Wir mußten anerkennen, daß wir vor allem in den 90er Jahren eine Zeit der politischen Abwehrkämpfe durchleben mußten. Es ist uns gelungen, unsere Organisation aufrechtzuerhalten. Aber für eine revolutionäre Partei haben Abwehrkämpfe Grenzen. Es macht keinen Sinn, das ganze Leben lang nur Widerstand zu leisten, wenn das Ziel doch ist, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Wichtig ist, voranzukommen. Deshalb haben wir eine Phase begonnen, in der Kräfte zu größeren Bewegungen gesammelt wurden, zum Beispiel 2006 in der Bewegung der marginalisierten Arbeiter. Bis heute wird das Leben Chiles durch die unter Pinochet erlassene Verfassung geregelt, und ihr zufolge sind kollektive Tarifverhandlungen verboten, es gibt keine Volksabstimmungen, der Staat darf nicht in strategisch wichtige Unternehmen investieren. Die Familie ist als wichtigste Instanz zur Sicherung der Bildung festgelegt, so daß sich der Staat beim Investieren in die Bildung zurückhält. All das hat zu schweren Rückschlägen geführt. Alle Erfolge, alle Erfahrungen, die unsere Arbeiterbewegung von ihrem Entstehen um 1900 bis zum Sieg der Unidad Popular 1970 sammeln konnte, wurden zerstört.

Die Phase der Kräftesammlung, der Stärkung der Bewegungen, begann etwa 2006 mit den ersten echten Tarifverhandlungen, durchgesetzt durch die Arbeiter von Subunternehmen im Kupferbergbau und in der Forstwirtschaft. Ihnen gelang es, sich zu organisieren und Verhandlungen mit den Zentralunternehmen, mit den Mutterkonzernen zu führen. Dann kam die Bewegung der Oberschüler, die als »Revolution der Pinguine« bekanntgeworden ist. Wir nennen die Schüler wegen ihrer Uniformen so. Am Anfang war das eine etwas despektierliche Bezeichnung, aber mit ihren Aktionen haben sie breite Achtung gewonnen, und heute klingt es völlig anders, wenn es heißt: Da kommen die Pinguine. Gerade die Jugend hat für ein Ende der Phase der Abwehrkämpfe gesorgt. Sie hat die Forderung nach Überwindung der Verfassung, nach Aufhebung des Grundgesetzes für das Bildungswesen erhoben.

Der Diskurs hat sich geändert. In den 90er Jahren gab es eine chilenische ­Version des »Es spielt alles keine Rolle«. Mittlerweile ist jedoch ein Prozeß entstanden, der 2011 seinen bislang stärksten Ausdruck gesehen hat. Wir hatten die Möglichkeit, eine große Zahl wichtiger Studentenorganisationen in die Bewegung zu bringen, und die Kommunistische Jugend wurde zu dieser Zeit zur wichtigsten politischen Organisation darin. Das sage ich ohne Arroganz, denn wir stehen im Wettbewerb mit anderen linken Organisationen um die Führung der Bewegung. Es gab eine Diskussion um die Strategie und den Weg, den die Bewegung einschlagen sollte. Die Parolen, die die Partei seit den 90er Jahren erhoben hat, die Änderung der Verfassung etwa, fanden Widerhall im Volk, und die Rolle der Partei veränderte sich. Es entsteht wieder ein politisches Massengefühl. Wir gewinnen unsere Rolle zurück, nicht das mißverstandene Konzept der Avantgardepartei. Wir üben unsere Avantgarderolle aus, indem unsere Vorschläge im Volk Widerhall finden.

Andere Gruppen versuchen in dieser Hinsicht, dasselbe zu tun. Mit ihnen gibt es ideologische Differenzen. So verabsolutieren einige die Rolle der Bewegung, andere lehnen die Ideen des Kommunismus ab, aber alle treiben die Politisierung des Landes voran, und das ist ein bedeutender Effekt.

Wir haben die Möglichkeit des Zusammenfindens der verschiedenen politischen Positionen, denn es gibt eine einheitliche Organisation aller Studenten, in der alle zusammenkommen. Sogar die rechten Studenten sind dabei. Darin müssen wir diskutieren und versuchen zu überzeugen. Heute spielt eine gewerkschaftliche oder studentische Organisation entsprechend der Ideologie nicht so eine Rolle, wie es zu einem anderen Zeitpunkt einmal war. Die Studentenorganisation ist ein Massenverband, und die ideologische Diskussion wird in ihrem Rahmen geführt. Es muß die Einheit geben, ohne die Diversität der Organisationen in Frage zu stellen. Die Partei spielt dabei ihre Rolle. Wir sind nicht die einzigen, und es wäre ein Fehler zu behaupten, daß wir die einzige Partei wären. Aber wir leisten auf politischer und ideologischer Ebene einen wichtigen Beitrag. Wir stellen die Differenzen nicht in Abrede, aber die Bedeutung der geeinten Organisation, der Organisierung überhaupt – die die Diktatur ja ebenfalls zerschlagen hatte – steht heute außerhalb jeder Diskussion.

Die chilenische Studentenbewegung hat in ihrer Hochphase die Titelseiten der Weltpresse eingenommen. Nun entsteht der Eindruck, daß sie, ohne irgendwelche Ergebnisse erreicht zu haben, wieder verschwunden ist. Stimmt das?

Nein, die Bewegung ist nicht verschwunden, aber die Medienkonzerne haben versucht, ihr internationales Echo einzuschränken. Es hat in diesem Jahr mehrere große Mobilisierungen mit mehr als 100000 Teilnehmern gegeben. Aber in der Studentenbewegung hat ein Nachdenken eingesetzt: Wir können eine Million Menschen auf die Straße bringen, aber es wird sich nichts ändern, wenn nicht auch die Arbeiter aktiv werden. Darin sind sich die verschiedenen politischen Strömungen in der Bewegung einig. Die Studenten haben der Opposition wieder Dynamik verliehen, sie haben Demonstrationen und Kundgebungen wieder zum Mittel gemacht, um Forderungen durchzusetzen. Nun aber geht es um die Frage, wer die Produktion stoppen, wer die Betriebe lahmlegen kann. Das sind sehr interessante, sehr tiefgreifende Überlegungen der Studenten. Das bedeutet allerdings noch nicht, daß die Arbeiter automatisch aktiv werden, denn hier liegen die Dinge etwas anders. Die Angst, mit der die Diktatur geherrscht hat, beeinträchtigt auch heute noch vor allem die subjektiven Möglichkeiten der Arbeiter.

Aber vor allem in kleineren Orten gibt es eine interessante Entwicklung. In Städten wie Punta Arenas, das rund 130000 Einwohner hat, haben sich »soziale Tische« gebildet, klassenübergreifende Bündnisse, in denen Organisationen der Arbeiter und Studenten oder Umweltschutzgruppen zusammengeschlossen haben. In Punta Arenas, das weit im Süden liegt und wo es sehr kalt ist, ging es um die Frage der Gasversorgung. Das Bündnis hat regelrecht die Kontrolle über die Stadt übernommen und die Zufahrtswege blockiert. Das ging so weit, daß der Kommandeur der Polizei beim Gewerkschaftsverantwortlichen anrufen mußte, um diesen um die Erlaubnis zu bitten, in die Stadt hineinfahren zu dürfen. Auch in Patagonien gelang es einer Protestbewegung in diesem Jahr, die wichtigsten Verkehrsverbindungen zu blockieren, und auch in kleineren Orten mit vielleicht 2000 oder 3000 Einwohnern organisieren sich die Menschen in dieser Weise, vor allem, um Umweltprobleme zu lösen.

Welche Rolle spielt der Gewerkschaftsbund CUT in diesen Bewegungen?

Wir Kommunisten stellen die Bedeutung der Gewerkschaften, der CUT, nicht in Abrede, weder historisch noch heute. Aber es gibt eine Krise der Führung der CUT, die dazu geführt hat, daß die Organisation nicht die Rolle spielt, die sie spielen könnte (Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde geführt, bevor die Kommunistin Bárbara Figueroa zur neuen Vorsitzenden der CUT gewählt wurde). Es gibt einen politische Disput mit den Compañeros der Sozialistischen Partei in der CUT, und wir sind der Meinung, daß die CUT stark hinter der Bedeutung hinterhergehinkt ist, die sie hätte haben können. Besonders seit dem Amtsantritt der rechten Regierung von Sebastián Piñera hat die Gewerkschaft eine stark defensive Haltung eingenommen, ist zurückgewichen. Nun wird versucht, die Gewerkschaften wieder nach vorn zu bringen.

Im kommenden Jahr finden in Chile wieder Präsidentschaftswahlen statt. Mit welcher Haltung geht die Kommunistische Partei an diese Frage heran?

Für uns ist klar, daß wir eine neue Regierung brauchen. Es darf nicht dieselbe Regierung sein, wie wir sie unter den Rechten haben, aber auch nicht eine solche, wie wir sie in den 20 Jahren der Concertación hatte …

… das Mitte-Links-Bündnis, das Chile vom Ende der Pinochet-Diktatur 1990 bis zur Amtsübernahme Piñeras 2010 regierte.

Sie wird häufig als sozialdemokratisch bezeichnet, tatsächlich aber hatte die Concertación wenig mit der traditionellen Sozialdemokratie zu tun, sie war eher liberal. Wir brauchen also eine neuartige Regierung, und dazu brauchen wir eine neue Verfassung. Die Erfahrungen unseres Kontinents, in Bolivien, Venezuela und Ecuador, zeigen den Weg. Dort sind sie an die Regierung gekommen, um verfassunggebende Versammlungen einzuberufen. Es gibt auf dem amerikanischen Kontinent bislang keine Erfahrung, eine neue Verfassung durchzusetzen, ohne die Regierung erobert zu haben. Wir müssen an die Regierung kommen, um das durchzusetzen.

Diese Regierung neuen Typs muß nicht unbedingt eine linke sein, aber unter den Verhältnissen unseres Landes wäre sie eine sehr viel fortschrittlichere Regierung als alles, was wir bisher hatten. Aber dazu müssen wir die Mehrheitsverhältnisse ändern und die Rechten verdrängen. Aber wir Kommunisten denken weiter. Es ist gut, wenn die Rechten abgelöst werden. Wenn wir dann aber nicht weiter Druck machen, wiederholt sich die Erfahrung der Concertación. Was hätte das an Neuem? Nichts. Deshalb ist es wichtig, daß wir eine Stimmenzahl erreichen, die es erlaubt, Druck für ein anderes Programm für unser Land auszuüben.

Dazu wollen wir eine fortschrittliche Allianz aufbauen. Wir sagen nicht: eine linke Allianz, weil dies unsere Bündnispartner wie die Radikale Partei, mit der wir schon zu anderen Zeiten der Geschichte zusammengearbeitet haben, in eine Kategorie rücken würde, der sie nicht angehören. Sie sind momentan nicht links, auch wenn ich davon ausgehe, daß sie, wenn die Bewegung weitergeht, sie linke Positionen übernehmen müssen. Dazu waren die Kommunalwahlen Ende Oktober der erste Schritt. Und mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2013 können wir feststellen, daß die Rechte erschöpft ist, sie hat nur noch Zustimmungswerte von 33 Prozent. Aber wir dürfen uns natürlich nicht darauf verlassen, daß sie schon besiegt ist. Die historische Erfahrung zeigt, daß sie, wenn sie in einer Krise sind, zu dem für sie besten und für uns schlechtesten Mittel greifen, zur Gewalt, um die Prozesse aufzuhalten. Die Rechte ist noch nicht besiegt. Der Neoliberalismus, das kapitalistische System als ein Entwicklungsmodell, sind gescheitert. Aber deshalb ist die Rechte noch in keinster Weise besiegt.

Sind eine Regierung neuen Typs und fundamentale Veränderungen in Chile überhaupt möglich, trotz dieser Tradition der Gewalt der Rechten, wie sie sich beim Putsch 1973 geäußert hat?

Das ist es, was heute auf dem Spiel steht: die Möglichkeit, in Chile grundsätzliche Veränderungen durchzusetzen, was sich ganz besonders in einer Veränderung der Verfassung ausdrückt. Dazu brauchen wir eine mehrheitsfähige Bewegung mit einer starken Linken, die in der Lage sein muß, sich mit der politischen Mitte zu verständigen. Das politische Zentrum in Chile ist heute geprägt von der Christdemokratie und von Bürgervereinigungen, die sich zum Beispiel für den Umweltschutz engagieren. Eine Verständigung mit diesen Kräften wird entscheidend dafür sein, eine Mehrheit zu bekommen, die in der Lage ist, die Rechte zu isolieren, die unser Hauptfeind, unser Klassenfeind ist. Ich sage Verständigung, weil diese Kräfte nicht unsere Verbündeten sind, aber wir müssen zu Übereinkünften bei bestimmten Themen, bestimmten Anliegen kommen.

Eine Hauptaufgabe dieser Verständigung ist, die Angst vor einem neuen Militärputsch oder einer Intervention der Yankees zu überwinden. Der Imperialismus interveniert heute in Lateinamerika nicht mehr direkt, er greift zu anderen Mitteln. In Chile hat der Imperialismus eine Basis errichtet, aber nicht in dem Sinne wie er Militärbasen in Kolumbien errichtet, sondern eine Ausbildungsbasis, vielleicht vergleichbar mit der School of the Americas (1946 gegründete CIA-Folterschule, jW), in der aber Polizisten – nicht Militärs – zur Unterdrückung von Protesten ausgebildet werden. Und was wir besonders anprangern müssen, ist, daß dieses Ausbildungszentrum, in dem die Zerschlagung sozialer Protestbewegungen mit militärischen Mitteln geschult wird, aus Geldern der Vereinten Nationen finanziert wird. Sie brauchen also nicht mehr von außen gegen Massenbewegungen zu intervenieren, sondern haben andere Formen gefunden.

In den Medien wurde viel über die politische Zukunft von Camila Vallejo spekuliert, nachdem sie nicht mehr Vorsitzende des Studentenverbandes ist. Wird sie die Hugo Chávez von Chile?

Das wissen wir noch nicht, die Kaderplanung ist noch nicht abgeschlossen. Klar ist, daß Camila auch künftig eine sehr wichtige Rolle in den sozialen Bewegungen spielen wird. In den Umfragen wird ihre Bedeutung als politische Persönlichkeit in unserem Land immer wieder deutlich, und daß, obwohl praktisch alle Meinungsforschungsinstitute privat sind und der Rechten nahestehen. Als populärste Politikerin gilt nach wie vor die frühere Präsidentin Michelle Bachelet, aber Camila steht in diesen Umfragen auf dem vierten Platz von allen Politikern – nach dem wahrscheinlichen Präsidentschaftskandidaten der Rechten, der durch die spektakuläre Rettung der eingeschlossenen Bergleute populär wurde, und nach dem gegenwärtigen Kulturminister, einer sympathischen, aber politisch nicht sonderlich relevanten Figur. Direkt danach kommt Camila, und das als Kommunistin. Es wäre aber noch zu früh, über ihre politische Zukunft zu sprechen. In diesem Jahr hat sie weiter als Studentenführerin gearbeitet, und im kommenden Jahr werden wir das gemeinsam diskutieren, schließlich sind dann auch Parlamentswahlen. Aber nicht nur Camila, sondern die neue Generation, die Tausenden jungen Menschen, die in den letzten Jahren in unsere Partei eingetreten sind, werden in der Politik eine ganz entscheidende Rolle spielen. Wenn wir auf den Beginn unseres Gesprächs und den Geburtstag unserer Partei zurückgreifen, können wir das auch mit den Worten Violeta Parras sagen: Nach einem Jahrhundert, nach dem Massenmord sind wir jünger als je zuvor.

Erschienen am 8. Dezember 2012 in der Tageszeitung junge Welt