Mord durch Unterlassen

Sie haben sich zusammengesetzt, um darüber zu reden. Als Reaktion auf den Tod Hunderter Flüchtlinge innerhalb weniger Tage kamen die EU-Außenminister am Montag in Luxemburg zu einem außerordentlichen Treffen zusammen. Die Europäische Union müsse so schnell wie möglich dafür sorgen, dass nicht noch mehr Menschen im Mittelmeer umkämen, zitierte die Deutsche Presseagentur Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier bei dessen Ankunft im Großherzogtum. Doch die EU und an ihrer Spitze die Bundesregierung haben selbst dafür gesorgt, dass noch mehr Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Sie haben die italienische Rettungsmission »Mare Nostrum« am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Sie haben Frontex zur Jagd auf die Flüchtlinge angesetzt, um die Festung Europa abzuschotten. Sie haben zum Teil die Ursachen überhaupt erst geschaffen, die Menschen zur Flucht nach Europa treiben: Konzerne, die durch das Aufkaufen von fruchtbarem Land und das Leerfischen der Gewässer den Bauern die Existenzgrundlage entziehen. Die NATO, die durch Bombenangriffe und Interventionen für Krieg und Destabilisierung in Afrika sorgt. Angebliche Menschenrechtler, die in Syrien eine »Revolution«, eine Fortsetzung des »Arabischen Frühlings« witterten und nicht schnell genug Öl in das Feuer des ausgebrochenen Krieg kippen konnten. Deutsche Rassisten, die schon Angst bekommen, wenn jemand zu einem anderen Gott betet, als sie selbst. Journalisten der Mainstreampresse, die zu Interventionen und gegen Flüchtlinge hetzen.

»Ganz schnelle Lösungen« werde es sicherlich nicht geben, zitiert dpa den Bundesaußenminister weiter. Warum nicht? Warum beschlagnahmt Ihr nicht die Milliardengewinne der Rüstungskonzerne? Sie haben mit dem Export der Waffen, mit denen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge gemordet wird, Riesengeschäfte gemacht. Warum zieht Ihr Eure Kriegsschiffe nicht aus den Gewässern vor Somalia ab und setzt sie zur Flüchtlingsrettung ein? Warum nutzt Ihr dafür nicht Eure Schiffe im Mittelmeer, die seit 2001 für »Seeraumüberwachung und Terrorismusbekämpfung« (O-Ton Bundeswehr) eingesetzt sind?

Die Zahlen der Opfer der Festung Europa sind nicht mehr vorstellbar. Am Sonntag versammelten sich in Augsburg junge Menschen zu einer Mahnwache und widmeten jedem der allein in den vergangenen sieben Tagen ertrunkenen Flüchtlinge eine einzige Minute. Sie standen von Sonntag um 10 Uhr bis Montag um 4.20 Uhr auf dem Rathausplatz, mehr als 18 Stunden.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière erklärte am Montag, in Libyen warteten bis zu einer Million Menschen auf eine Gelegenheit zur Überfahrt nach Europa. So viele Menschen hat allein der selbst nur gut fünf Millionen Einwohner zählende Libanon aufgenommen, um ihnen Schutz vor dem Krieg im benachbarten Syrien zu gewähren. Und das reiche Europa kann das nicht? Doch, aber es will nicht. Und die Verantwortlichen können sich derzeit sicher sein, dass sie kein Richter für ihre Beteiligung an dem massenhaften Morden durch Unterlassen zur Verantwortung ziehen wird.

Erschienen am 21. April 2015 in der Tageszeitung junge Welt