Mit Jesus zum Sozialismus?

Katholische Kirche und Unterdrückung; Katholische Kirche  und Kampf um Befreiung – in kaum einer Region unserer Erde  sind diese Phänomene enger miteinander verbunden als  in Lateinamerika. Bereits bei der blutigen Eroberung  des Kontinents durch die spanischen und portugiesischen Kolonialherren ab 1492 spielte die Religion als Legitimationsideologie der Konquistadoren eine entscheidende Rolle: Mit Schwert und Kreuz wurden die Menschen  unterjocht,  unzählige fielen den Massakern der „christlichen Herren“ zum Opfer.

Trotz  einiger Ausnahmen  –  erinnert sei an den Priester Fray Bartolomé de las Casas, der die Ausrottung der indigenen Bevölkerung anklagte – stand die Katholische Kirche über die Jahrhunderte hinweg fest an der Seite der Kolonialherren. Das mußte auch noch Simón Bolíar  erleben,  unter  dessen Führung sich weite Teile Südamerikas von der Kolonialherrschaft befreiten.

Bolívar mußte nicht nur gegen die Spanier kämpfen, sondern auch gegen den Klerus. Als 1812 ein Erdbeben Caracas erschütterte, interpretierte die Kirche dieses Naturereignis als Strafe Gottes für die untreuen Untertanen der spanischen Krone. Doch Bolívar entgegnete den Wankelmütigen: „Und wenn sich die Natur gegen unsere Ziele stellt, so kämpfen wir gegen sie und werden sie zwingen, uns zu gehorchen!“

Der Befreier war sich der vom Klerus ausgehenden Gefahr trotz seiner eigenen Religiosität wohl bewußt und forderte deshalb eine umfassende Bildung der Bevölkerung.

Tatsächlich  blieb  vor  allem der  hohe Klerus  auch  nach  dem Erringen  der Unabhängigkeit stramm auf Seiten der Unterdrücker. Kaum ein Militärputsch im 19. und 20. Jahrhundert kam ohne Anrufung der Religion gegen die „gottlosen Widersacher“ aus. Gemeint waren Kommunisten, Marxisten oder alle, die von der Rechten und den USA dazu erklärt wurden. Zugleich ging der Vatikan gegen kritische Geistliche vor, die sich dem antikommunistischen Dogma widersetzten und ihre im Elend lebenden Gemeinden nicht auf ein Paradies nach dem Tode vertrösten wollten.

Zu  den  bekanntesten Vertretern  dieser Strömung – die als „Theologie der Befreiung“  bekannt wurde  –  gehörte  der  kolumbianische Priester Camilo Torres Restrepo,  der  sich  nicht nur  theologisch,  sondern  auch  sozialwissenschaftlich  und  politisch mit den ungerechten Zuständen in seinem Heimatland  auseinander  setzte. Seine Erkenntnisse  über  die  reaktionäre Rolle des hohen Klerus führte ihn schließlich zu der Aussage, daß eher die Kommunisten in den Himmel kämen als die Bischöfe und andere hohe Würdenträger,  denn  seine  „kommunistischen Brüder“  lebten  tatsächlich nach der Forderung des Evangeliums: „Liebe deinen Nächsten“.

Nachdem  seine Versuche,  eine  politische Opposition  in Kolumbien  aufzubauen,  an  der Repression  gescheitert waren, schloß sich Camilo Torres Mitte  der  60er  Jahre  schließlich  der gerade erst gebildeten Nationalen Befreiungsarmee (ELN) an, die bis heute als zweitstärkste Kraft nach den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) den bewaffneten Kampf um die Befreiung des Landes führt. 1966, in seinem ersten Gefecht, starb Camilo Torres im Kugelhagel der Regierungstruppen.  Bis  heute wird  er als eine der legendären Persönlichkeiten Kolumbiens verehrt, weit über die unmittelbaren Anhänger der Guerrilla hinaus.

Noch bekannter ist zumindest hierzulande der  frühere Kulturminister der sandinistischen Regierung Nicaraguas nach dem Sturz der Somoza-Diktatur, Ernesto Cardenal. Unter der Leitung des 1925 geborenen Priesters führten die Sandinisten ihre Alphabetisierungskampagne  im  ganzen Land  durch  und  konnten  –  trotz des Terrors  der  von  den USA finanzierten Contra-Banden  –  den Analphabetismus  von  65  Prozent  auf  12 Prozent senken, bevor  ab 1990, nach der Abwahl der sandinistischen Regierung, unter den neoliberalen Regimen der Analphabetismus wieder anstieg.

Auch wenn Cardenal heute nicht mehr der FSLN angehört, bleibt er doch klar links  positioniert  und  unterstützt  öffentlich sowohl die Kubanische Revolution als auch den revolutionären Prozeß in Venezuela: „Chávez wird  des  Populismus  angeklagt, aber  ich glaube, das  stimmt nicht, sondern daß er ein authentischer Revolutionär ist, wenn  auch mit etwas populistischem Einschlag. Seine Liebe zum Volk und seine Bevorzugung der Armen ist offenkundig. (…) Im Unterschied  zu Fidel  spricht  er  in  seinen Reden viel von Gott und Christus. Er zitiert viel aus dem Evangelium, und manchmal  sind es  falsche Zitate, die er Christus  in  den Mund  legt,  doch sinngemäß  stimmt  es  schon.  (…) Für mich ist seine Revolution so, als wäre Bolívar nach Venezuela zurückgekehrt, von wo  ihn die Oligarchie  verstoßen hat. Für mich spielt sich dort eine authentische Revolution ab, und Chávez ist nicht nur ein charismatischer Führer, sondern er hat Millionen von Venezolanerinnen und Venezolanern hinter sich.“

Hugo Chávez, der venezolanische Präsident, ist tief religiös, was ihn jedoch nicht  daran  hindert,  auch mit  reaktionären Bischöfen  zu  streiten. „Der katholische Klerus  ist  das Krebsgeschwür  unserer Gesellschaft“,  sagte er einmal mit Blick auf Geistliche, die zum Beispiel im April 2002 den Putsch gegen ihn unterstützt hatten. Der damalige Vorsitzende der venezolanischen Bischofskonferenz, Baltasar Porras, gehörte nach dem Staatsstreich zu  den Unterzeichnern  einer Erklärung, in der „Vertreter der Zivilgesellschaft“ den von den Putschisten eingesetzten „Übergangspräsidenten“ Pedro Carmona anerkannten.

Der hohe Klerus ist bis heute ein fester Bestandteil der reaktionären Opposition Venezuelas und vermutlich der Teil der Rechten, der in einer Bevölkerung, in der 96 Prozent zumindest formal der römisch-katholischen Kirche angehören, noch am meisten Einfluß besitzt.

Bereits 1999 hatten die Bischöfe gegen die neue Verfassung gewettert, weil ihnen das Abtreibungsverbot nicht weit genug,  die Gleichberechtigung  aller Religionen  und Glaubensrichtungen hingegen viel zu weit ging.

Als im vergangenen Jahr die venezolanische Regierung entschied, die Sendelizenz für die Antennenfrequenz des kommerziellen Fernsehsenders RCTV nicht zu verlängern, sahen die Bischöfe prompt die Meinungsvielfalt in Gefahr. Der Erzbischof von Caracas, Kardinal Jorge Uruosa, erklärte gegenüber Radio Vatikan  –  dem Rundfunksender des einzigen absolutistisch durch einen einzelnen Mann geführten Staat Europas –, die Pressefreiheit sei „wesentlich für eine Kontrolle der Macht durch die öffentliche Meinung“. Die katholischen Würdenträger verteidigten also einen Sender, der sich in erster Linie durch billige Seifenopern, Sex- und Gewaltfilmchen und eben durch Angriffe auf die Regierung auszeichnete. Letzteres reichte  den Bischöfen,  um  sich  dem Kommerzkanal anzudienen.

Auch als Pr舖ident Chávez im Herbst für eine Verfassungsreform warb, gehörten die Bischöfe zu den eifrigsten Gegnern  der Reform –  sie verteidigten  also  eine Verfassung,  gegen  die sie  sich  vor  neun  Jahren massiv  zur Wehr  gesetzt  hatten. Wieder  einmal sah der Klerus die „politische Freiheit und das Recht auf Meinungsäußerung“ in Gefahr. Von den gewaltsamen Ausschreitungen  der Regierungsgegner distanzierten sich die Bischöfe hingegen nicht.

Zahlreiche Priester  in Basisgemeinden  unterstützen  hingegen  aktiv  den sozialistischen Kurs  der  venezolanischen Regierung. So  betont Padre Adolfo Rojas,  er  sehe  keinen Widerspruch  zwischen Marxismus, Sozialismus  und Christentum. Damit  teilt Rojas  die  Position Chávez‘,  für  den Jesus Christus ein Sozialist war: „der erste Revolutionär  unserer Epoche“.

Viele  gläubige Christen  haben  sich auch  in der neuen Vereinten Sozialistischen  Partei Venezuelas  (PSUV) eingeschrieben. Präsident Chávez, der  auch Parteivorsitzender  ist,  geht davon aus, daß die Grundlage des angestrebten Bolivarischen Sozialismus „soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und vor allem ein tiefer christlicher Geist“ seien. Der venezolanische Sozialismus gehe „Hand in Hand“ mit den humanistischen Prinzipien des Christentums, erläuterte Chávez in einem Interview mit dem argentinischen Fernsehsender „Todo Noticias“.

Diese Haltung stößt bei anderen Teilen der venezolanischen Linken durchaus auf Kritik. So mehren sich im linken Internet-Portal Aporrea.org die Stimmen von Unterstützern der Regierung, die mehr Respekt für Venezolanerinnen und Venezolaner  einfordern, die keiner Religion  folgen. So  kritisierte im April Jerónimo Soto Mast den „Bekehrungseifer“ des staatlichen Fernsehens VTV während der Osterfeiertage, als stundenlang Prozessionen übertragen wurden und die Moderatoren ständig von  „unserem Herrn  Jesus Christus“ sprachen.

Trotz solcher Kritik werden es die fortschrittlichen und revolutionären Kräfte Lateinamerikas nicht zulassen, daß Religionsfragen  zu  einem  Spaltpilz der Prozesse  in  der Region werden. So unterstützt auch die Kommunistische Partei Paraguays (PCP) den neuen Präsidenten des Landes, den vom Vatikan suspendierten Bischof Fernando Lugo. In einer Analyse des Wahlsiegs des „Bischofs der Armen“ am 20. April schreiben  die  paraguayischen Kommunisten:

„Lugos Sieg muß das Ende der Spaltung unseres Volkes bedeuten. (…) Wir müssen uns und alle Paraguayer davon überzeugen, daß wir uns als Teil des Volkes fühlen und für das Leben und gegen die Ausgrenzung leben und kämpfen,  daß wir  historische  Subjekte  sind,  die  selbst  die Geschichte bauen, ob wir uns beteiligen oder uns nicht beteiligen. In diesem Fall ist es notwendig und dringend, uns vereint zu beteiligen und dem Leben und der Würde den Vorrang zu geben.“

Erschienen im "Berliner Anstoß" , Ausgabe Juni/Juli 2008