Millionen Wohnungen

Auf einer Homepage der venezolanischen Regierung prangt ein Bild von Friedrich Engels und daneben dessen Satz aus einem 1872 erschienenen Artikel: »Erst die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise macht die Lösung der Wohnungsfrage möglich.« Informiert wird auf der Internetseite über das ehrgeizige Programm der Administration von Präsident Hugo Chávez, innerhalb von sieben Jahren zwei Millionen Apartments zu bauen, um damit die in dem südamerikanischen Land bestehende Wohnungsknappheit zu beseitigen. Derzeit befinden sich 400000 dieser Wohnungen im Bau, berichtete Chávez am vergangenen Donnerstag während einer Sitzung seines Kabinetts. Von diesen sollen noch vor Jahresende 80000 an die neuen Bewohner übergeben werden.

Wohnungsbauminister Ricardo Molina berichtete bei der Sitzung, seit dem Beginn der »Gran Misión Vivienda Venezuela« im April 2011 seien bis jetzt knapp 290000 Wohnungen übergeben worden. Auf der Homepage des Programms wird als Ziel angegeben, bis Ende 2012 mindestens 350000 Wohnungen fertigzustellen. Bis vor wenigen Tagen hatte es jedoch noch so ausgesehen, als würde diese Vorgabe nicht erreicht werden. Grund dafür waren offenbar Verzögerungen, für die die beauftragten Bauunternehmen verantwortlich waren. Offenbar hatte es die Regierung im Präsidentschaftswahlkampf vermeiden wollen, sich mit den privaten Firmen anzulegen. Unmittelbar nach seiner Bestätigung im Amt am 7. Oktober zog Chávez jedoch die Schrauben an. Wie eine für die Kontrolle der verschiedenen Bauvorhaben zuständige Ingenieurin gegenüber junge Welt berichtete, wurde sie zusammen mit ihren Kollegen beauftragt, die Einhaltung der Termine schärfer zu überwachen. Es bestehe der Verdacht, daß einige Unternehmen im Vorfeld der Wahlen die Fertigstellung neuer Wohnungen bewußt verzögert hätten, um dadurch indirekt die Opposition zu unterstützen.

Von den neuen Wohnungen profitieren zunächst die Opfer der Unwetter, die Venezuela in den vergangenen zwei Jahren heimgesucht haben und bei denen mehrere Tausend Unterkünfte zerstört worden waren. Ihnen werden die Wohnungen kostenlos zur Verfügung gestellt, bei der Einrichtung werden die Empfänger zudem durch ein anderes Regierungsprogramm, »Mi Casa Bien Equipada« (Mein gut eingerichtetes Haus), unterstützt. Die zweite große Gruppe, die von dem Wohnungsbauprogramm profitiert, sind die bisherigen Bewohner der Elendsquartiere in den Armenvierteln der Hauptstadt Caracas und anderer Metropolen. Ihnen werden die Wohnungen für einen monatlichen Mietpreis von 100 Bolívares angeboten, was nach dem offiziellen Wechselkurs etwa 18 Euro entspricht. In einer dritten Stufe sollen dann auch neue Unterkünfte für Angehörige der unteren Mittelschicht geschaffen werden, die ebenfalls unter der bisherigen Wohnungsknappheit und den dadurch steigenden Preisen leidet.

Parallel zu dem Wohnungsbauprogramm wurden in Venezuela vor allem im vergangenen Jahr mehrere Gesetze und Dekrete verabschiedet, die sich direkt gegen die Spekulation mit Wohnraum richten. So verbietet ein von Hugo Chávez am 5. Mai 2011 erlassenes Dekret Zwangsräumungen von »natürlichen Personen und deren Familiengruppen, die als Mieter in als Wohnraum ausgewiesenen Immobilien wohnen, sowie jenen Personen, die solche Immobilien rechtmäßig als Hauptwohnung besetzt halten«. Begründet wurde dieser Erlaß, der praktisch jede Wohnungsräumung untersagt, von Chávez damit, daß die Mieten auf der Basis von »Immobilienspekulation und den kapitalistischen Interessen der Eigentümer und Vermieter und nicht aufgrund der realen Kosten oder einem nachvollziehbaren Wert der Mietwohnungen festgelegt« würden. Dadurch jedoch seien vor allem Angehörige der unteren Mittelschicht und der ärmeren Bevölkerungsgruppen vom Verlust ihres Heimes bedroht. Das habe für die betroffenen Familien nicht nur unmittelbare wirtschaftliche und soziale Folgen, sondern bedrohe auch deren psychische und körperliche Gesundheit, so der Staatschef.

Die Opposition sieht in solchen Bestimmungen und im Wohnungsbauprogramm der Regierung die »für den Sieg von Chávez am 7. Oktober lebenswichtige Speerspitze«, wie es die rechte Tageszeitung El Universal Ende Oktober kommentierte. Ihr Kolumnist Dámaso Jiménez kritisiert die Maßnahmen als »emotionale Show«, die ohne Strategie und Konzept vorangetrieben werden. Und wieder einmal spielt das Blatt die Castro-Karte: Grund für die Wohnungsnot in Venezuela sei, daß die Regierung in Kuba systematisch »mit den Mitteln der Venezolaner« Häuser baue, während im eigenen Land Zement und Baumaterialien fehlten.

Erschienen am 13.11.2012 in der Tageszeitung junge Welt