Millionen gegen Piñera

Es war die größte Demonstration in der Geschichte Chiles: 1,2 Millionen Menschen – so die offizielle Schätzung der Stadtregierung – gingen am Freitag (Ortszeit) im Zentrum von Santiago auf die Straße, um den Rücktritt von Staatschef Sebastián Piñera und eine grundsätzliche Kursänderung zu fordern. Hunderttausende weitere Menschen demonstrierten in vielen anderen Städten und Dörfern des südamerikanischen Landes.

Zahlreiche chilenische und lateinamerikanische Fernsehsender übertrugen die gigantische Kundgebung in der Hauptstadt live, und was auf den oft von Hubschraubern aus gemachten Aufnahmen nicht zu sehen war, steuerten Alternativmedien bei. So zeigten Reporter von Prensa Opal, wie Einsatzkräfte nahe des Präsidentenpalastes La Moneda mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vorgingen und Stahlkugeln auf Gruppen Protestierender schossen.

Offiziellen Quellen zufolge kamen bislang mindestens 19 Menschen ums Leben. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) sind zwischen dem 17. Oktober und dem vergangenen Sonnabend mindestens 997 Menschen in Krankenhäuser eingeliefert worden, die während der Demonstrationen verletzt worden waren. Mehr als 3.000 Menschen wurden festgenommen. Zudem liegen dem INDH Berichte über Gewalt und sexuelle Übergriffe von Polizisten und Soldaten gegenüber Inhaftierten vor, die Rede ist von Schlägen, Scheinhinrichtungen und angedrohten Vergewaltigungen.

Die riesige Demonstration vom Freitag ließ niemanden unbeeindruckt. In »sozialen Netzwerken« kursiert ein Foto, auf dem Präsident Piñera zu sehen sein soll, wie er mit versteinerter Miene der Fernsehübertragung folgt. Am Sonnabend (Ortszeit) reagierte er mit einer Umbildung seines Kabinetts und der Ankündigung, im Kongress eine »soziale Agenda« einbringen zu wollen. Zudem werde er, »soweit es die Umstände zulassen«, den Ausnahmezustand aufheben. Die Militärspitze setzte am Sonnabend die seit einer Woche geltende nächtliche Ausgangssperre für Santiago außer Kraft.

Der Opposition reichen diese Maßnahmen nicht. Sie fordert weiter den Rücktritt des Staatschefs sowie eine strafrechtliche Aufarbeitung der Ereignisse der letzten Tage. Offen sprechen Protagonisten der Proteste von einer »Revolution«, die nicht mit ein paar Zugeständnissen gestoppt werden könne. In den »sozialen Netzwerken« kursieren bereits Aufrufe zu einer weiteren Großdemonstration am Dienstag – diesmal aber direkt vor dem Präsidentenpalast La Moneda.

Auch bei der Großdemonstration am Freitag hatte es immer wieder Hinweise auf den 1973 vom Militär gestürzten und ermordeten linken Präsidenten Salvador Allende gegeben. Fahnen mit seinem Antlitz waren ebenso zu sehen wie Zitate aus seiner letzten Rundfunkrede: »Die großen Straßen werden sich wieder öffnen, auf denen der würdige Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht«.

Erschienen am 28. Oktober 2019 in der Tageszeitung junge Welt