junge Welt, 7. August 2015

Massengrab Mittelmeer

junge Welt, 7. August 2015Immer mehr Menschen sterben bei dem Versuch, vor Krieg und Elend nach Europa zu fliehen. Nachdem die Internationale Organisation für Migration (IOM) am Dienstag die Zahl der dieses Jahr im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge bereits mit über 2.000 angegeben hatte, starben am Mittwoch vermutlich erneut mehr als 200 Menschen. Die »Lé Niamh«, ein Patrouillenboot der irischen Kriegsmarine, hatte aufgrund des Notrufs eines Fischkutters, der mehrere hundert Schutzsuchende nach Europa bringen sollte, Kurs auf dessen Position genommen. Dort habe man dann als übliche Rettungsmaßnahme auf beiden Seiten des Kutters Festrumpfschlauchboote ausgebracht, teilte die irische Marine mit. Trotzdem sei das in Seenot geratene Schiff gekentert. Über die Gründe dafür wird in der Presseerklärung nichts mitgeteilt. Bis Donnerstag nachmittag konnten nach Angaben aus Dublin 367 Menschen gerettet und 25 Leichen geborgen werden. Etwa 200 Menschen wurden noch vermisst, für sie gab es kaum noch Hoffnung.

Menschenrechtsorganisationen machen die EU für die erneute Tragödie zumindest mitverantwortlich. »Pro Asyl« forderte, endlich Konsequenzen zu ziehen. »Schon nach der Katastrophe vor Lampedusa im Oktober 2013 zeigten sich europäische Politikerinnen und Politiker betroffen und versprachen eine Wende in der EU-Flüchtlingspolitik. Bis heute ist dies nicht geschehen. Derzeit sterben so viele Flüchtlinge im Mittelmeer wie nie zuvor.« Die Organisation fordert eine europäische Seenotrettung sowie die Schaffung von legalen, gefahrenfreien Wegen für Flüchtlinge nach Europa. Auch die Vereinten Nationen kritisierten erneut die Abschottung Europas. »Es muss bessere Wege geben, damit Flüchtlinge nicht ihr Leben riskieren müssen, um in die Sicherheit Europas zu gelangen«, forderte die Sprecherin des UN-Hilfswerks UNHCR, Melissa Fleming.

In Brüssel wurden dagegen die üblichen Krokodilstränen vergossen. »Schon ein einziges verlorenes Leben ist eines zuviel«, erklärten EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans und EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos in einem gemeinsamen Statement. Die EU habe ihre Rettungsmissionen im Mittelmeer bereits aufgestockt und den Kampf gegen Schlepper verstärkt, behaupteten sie.

Tatsächlich hatte Brüssel im Mai beschlossen, die Grenzschutzoperationen Frontex und Triton aufzustocken. Deren Aufgabe ist jedoch, die EU-Außengrenzen zu sichern, nicht der Schutz von Menschen. Am Mittwoch zeigte sich so erneut, dass Kriegsschiffe für die Rettung von Menschen ungeeignet sind. Doch in Berlin und Brüssel wird weiter auf Militär und Krieg gesetzt. So forderte der Afrikabeauftragte der Bundeskanzlerin, Günter Nooke (CDU), am Dienstag ein »härteres Vorgehen« gegen diktatorische Regierungen in Afrika, »um Fluchtursachen zu bekämpfen«. Es komme darauf an, Staaten zu »stabilisieren«, indem korrupte Strukturen beseitigt würden, sagte er im Südwestrundfunk. Für Systeme wie in Eritrea bedeute das, dass »ein Ende des jetzigen Regimes herbeizuführen« sei. Einen solchen »Regime-Change« zur »Verteidigung der Menschenrechte« hatte die westliche Wertegemeinschaft schon 2011 in Libyen betrieben. Seither versinkt das Land, von dem aus viele Flüchtlinge die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer wagen, in Chaos und Bürgerkrieg.

Erschienen am 7. August 2015 in der Tageszeitung junge Welt