junge Welt, 6. Juni 2011

Marschbefehl für Merkel

junge Welt, 6. Juni 2011In Libyen steht eine Bodenoffensive der NATO-Truppen offenbar kurz bevor. Das erklärte der stellvertretende russische Ministerpräsident Sergej Iwanow am Sonntag am Rande einer regionalen Sicherheitskonferenz in Singapur. Der am Sonnabend begonnene Einsatz von NATO-Kampfhubschraubern sei der letzte Schritt vor dem Eingreifen von Bodentruppen gewesen. Erstmals hatten Großbritannien und Frankreich am Wochenende »Apache«-Maschinen gegen die libysche Hauptstadt Tripolis eingesetzt. Zugleich flogen Kampfjets am Sonntag wieder Angriffe, nur Stunden nachdem der britische Außenminister William Hague die Rebellenhochburg Bengasi besucht hatte. Auch die Aufständischen setzten einem Bericht der kubanischen Agentur Prensa Latina zufolge ihre Offensive gegen die Regierungstruppen fort und übernahmen die Kontrolle über die kleine Siedlung Bir Ayad an der Grenze zur Gebirgsregion Nafussa.


Gegenüber dem in Berlin erscheinenden Tagesspiegel (Montagausgabe) forderte US-Präsident Barack Obama die deutsche Bundesregierung zu einem stärkeren Einsatz für den Sturz des Regimes von Muammar Al-Ghaddafi auf. Deutschland unterstütze bereits indirekt die ­NATO-Operationen gegen Tripolis, lobte der nordamerikanische Staatschef. Er freue sich auf die Diskus­sion mit der Kanzlerin, »wie wir gemeinsam noch mehr tun können, um effektiver auf die Veränderungen in der Region zu reagieren«, zitierte die Zeitung vorab aus dem schriftlich geführten Interview. Merkel wird am heutigen Montag in Washington erwartet, wo sie am Dienstag mit der »Presiden­tial Medal of Freedom« ausgezeichnet werden soll. Widerspruch zur Kriegspolitik des Friedensnobelpreisträgers kommt aus der mitreisenden deutschen Delegation. »Ich fliege mit, um Obama und Außenministerin Hillary Clinton zu verstehen zu geben, daß die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung keine weitere Kriegsbeteiligung will«, unterstrich die linke Außenpolitikerin und Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen gegenüber junge Welt. »Ob in Afghanistan, Libyen oder anderswo.«

Die UN-Sicherheitsratsresolution 1973, mit der die NATO ihren Luftkrieg gegen Libyen begründet, spielt unterdessen kaum noch eine Rolle. Ziel der militärischen Aktionen sollten dem Beschluß zufolge die »Durchsetzung einer Flugverbotszone« und der »Schutz der Zivilbevölkerung« sein. Der Einsatz von »Besatzungstruppen« wurde ausdrücklich ausgeschlossen. Nur unter dieser Maßgabe hatten Rußland und China auf ihr Vetorecht verzichtet. Peking und Moskau haben seither wiederholt einen sofortigen Waffenstillstand in dem nordafrikanischen Staat verlangt. Entsprechende Vermittlungsbemühungen der Afrikanischen Union scheiterten bislang jedoch an Vorbedingungen der Rebellen und der NATO.

»Wir haben der Resolution des UN-Sicherheitsrates zugestimmt und sind dabei davon ausgegangen, daß dieses Dokument auf die Festigung des Friedens und die Verhinderung einer Konfliktausweitung und des Todes von Zivilisten ausgerichtet ist. Aber die Handlungen der ­NATO können nicht anders als Einmischung in den Bürgerkrieg auf der Seite einer der sich bekämpfenden Gruppierungen bewertet werden«, beklagte Iwanow deshalb in Singapur. Rußland sei über »die zunehmende nichtproportionale Anwendung der militärischen Gewalt besorgt«, zitierte die Nachrichtenagentur Ria-Nowosti den russischen Spitzenpolitiker.

Erschienen am 6. Juni 2011 in der Tageszeitung junge Welt