junge Welt, 7. August 2017

Machtfrage gestellt

In Venezuela hat die verfassunggebende Versammlung am Sonnabend ihre Tätigkeit aufgenommen. Nach der feierlichen Konstituierung der Constituyente am Freitag, die von Tausenden begeistert gefeiert worden war, schlugen die 545 Abgeordneten bei ihrer ersten Arbeitssitzung einige Pflöcke ein und machten deutlich, dass sie sich ihrer allen anderen Staatsgewalten übergeordneten Stellung bewusst sind.

Gegen die demokratische Entwicklung hat es am Sonntag in der venezolanischen Stadt Valencia einen Militäraufstand gegeben. Laut Angaben der sozialistischen Regierung konnte »die terroristische Attacke« schnell niedergeschlagen werden. Im Rest des Landes gab es keine Umsturzversuche des Militärs.

Pünktlich vor Beginn der ersten Sitzung der Constituyente am Sonnabend hatte der Oberste Gerichtshof ein Urteil gegen Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz gefällt. Die Juristin wurde ihres Amtes enthoben, die Übernahme öffentlicher Ämter wurde ihr untersagt. Begründet wurde diese Entscheidung mit der Untätigkeit der Behörde gegenüber der seit April im Zusammenhang mit oppositionellen Protesten anhaltenden Gewaltwelle. Ortega hatte sich vor vier Monaten auf die Seite der Regierungsgegner geschlagen, seither ermittelte ihre Behörde vor allem gegen Angehörige der Sicherheitskräfte und der Regierung, während Untersuchungen gegen militante Oppositionelle wegen der Ermordung mutmaßlicher Chavistas eingestellt wurden.

Die Constituyente setzte Ortega offiziell von ihrem Amt ab und wählte den bisherigen Ombudsmann Venezuelas, Tarek William Saab, zum neuen Generalstaatsanwalt. Außerdem wurde eine Umstrukturierung der Behörde angeordnet. Saab erklärte bei der Vereidigung in sein Amt, er werde »unter diesen historischen Bedingungen der Bedrohung, der wir uns vom Staatschef Präsident Nicolás Maduro bis zum einfachsten Bauer, Fischer, Vater und Mutter einer Familie voller Würde entgegengestellt haben«, dafür eintreten, dass die Trikolore Venezuelas »nicht länger beschmutzt und beleidigt« werde.

Ortega akzeptierte ihre Entmachtung nicht und verbreitete eine weiter mit »Generalstaatsanwältin« unterzeichnete Erklärung, in der sie von einem »Putsch gegen die Verfassung« sprach. Sie werde nicht kapitulieren. Im Internet verbreitete Videoaufnahmen zeigten allerdings, wie sie auf dem Rücksitz eines Motorrades eilig aus dem Gebäude der Behörde verschwand.

Zur Präsidentin der verfassunggebenden Versammlung war bereits am Freitag die frühere Außenministerin Delcy Rodríguez gewählt worden. Die Diplomatin war international bekanntgeworden, als sie im Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) und in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) leidenschaftlich die Position ihres Landes gegen die rechten Regierungen der Region verteidigt hatte. In der OAS war es ihr gelungen, das Zustandekommen einer für das Verhängen von Sanktionen notwendigen Stimmenmehrheit zu verhindern. Die vier weiteren Vollmitglieder des Merco­sur – Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay – beschlossen dagegen am Sonnabend die unbefristete Suspendierung Venezuelas aus dem Staatenbund. Für Empörung sorgte diese Entscheidung in Montevideo. Die über das Linksbündnis Frente Amplio an der Regierung beteiligte Kommunistische Partei erklärte, man lehne die von der eigenen Exekutive eingenommene Haltung ab und bekräftige die antiimperialistische Solidarität mit Caracas.

Erschienen am 7. August 2017 in der Tageszeitung junge Welt