junge Welt, 25.10.2011

Libyen frei für Scharia

junge Welt, 25.10.2011Während der »Nationale Übergangsrat« (NTC) am Sonntag abend offiziell die »vollständige Befreiung« Libyens »mit seinen Städten, Dörfern, Hügeln, Bergen, Wüsten und Lüften« verkündete, setzte die NATO ihre Luftangriffe auf das nordafrikanische Land fort. Allein am Wochenende wurden insgesamt 24 Kampfeinsätze geflogen, teilte die Militärallianz am Montag auf ihrer Homepage mit, verschwieg jedoch, welche Ziele dabei attackiert wurden. Unterdessen wird in der lange umkämpften Stadt Sirte das Ausmaß der Zerstörungen sichtbar. Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch teilte am Montag mit, sie habe in einem Hotel in Sirte die Leichen von 53 mutmaßlichen Anhängern des langjährigen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi entdeckt, die offenbar Mitte Oktober in dem von NTC-Kämpfern kontrollierten Gebäude ermordet wurden.

Die meisten Einwohner sind aus der Stadt geflohen oder verlassen Sirte jetzt, berichtete AFP. Omar Beifala aber wolle bleiben. Mit einem Dutzend Verwandter versuche er, sein zerstörtes Haus notdürftig instand zu setzen. Die Wohnräume seiner Familie seien mehrfach geplündert worden. »Einmal waren es die Truppen von Ghaddafi, einmal die Revolutionäre«, erzählte Beifala dem Reporter. »Für uns sind sie alle gleich.«

Alles anders machen will hingegen NTC-Chef Mustafa Abdul Dschalil. Bei der Befreiungsfeier am Sonntag abend verkündete er vor Tausenden Menschen, künftig werde die Scharia die Grundlage aller Gesetze des nord­afrikanischen Landes sein. Vorschriften, die im Widerspruch zum Islam stünden, würden annulliert. Dazu zählte er Agenturberichten zufolge ausdrücklich auch das bestehende Familienrecht. Schon bisher durfte ein Mann in Libyen bis zu vier Ehefrauen haben, er brauchte dazu allerdings die Einwilligung seiner ersten Frau. Dschalil will diese Beschränkungen nun aufheben. Sultan Al-Qassemi, ein laizistischer Journalist aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, kommentierte dies über seinen vielgelesenen Twitter-Account: »Islamische Republik Li­byen– gebracht von der NATO«. Der frühere kubanische Präsident Fidel Castro warf der NATO in einer am Montag vom Internetportal Cuba­debate veröffentlichten Reflexion vor, zum »niederträchtigsten Repres­sionsinstrument« in der Geschichte der Menschheit geworden zu sein.

Für Bundesaußenminister Guido Westerwelle sind in Libyen hingegen »Angst und Unterdrückung der Hoffnung auf Frieden und Freiheit gewichen«. Auf der Homepage des Auswärtigen Amtes heißt es, Dschalil habe als »nächste Schritte« hervorgehoben, daß binnen 30 Tagen eine Übergangsregierung gebildet werden solle, die die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung vorbereitet. Die religiösen Parolen verschweigen Deutschlands Diplomaten lieber.

Der Apostolische Vikar in Tripolis, Giovanni Innocenzo Martinelli, kritisierte noch einmal die NATO-Intervention gegen Libyen. »Dieser Krieg hätte doch verhindert werden können, und es ist völlig unverhältnismäßig, mit geballter Militärmacht einem einzelnen Menschen neun Monate lang nachzustellen«, sagte er Radio Vatikan zufolge. Er räumte jedoch zugleich ein: »Aber ich merke jetzt auch, daß die Befreiung für das libysche Volk eine verdiente ist. Diese Menschen haben unter 40 Jahren Diktatur gelitten.« Ghaddafi habe zwar viel für die Religionsfreiheit getan. Zugleich habe er aber den Islam gepredigt und Hinrichtungen angeordnet: »Wie brachte er das zusammen?«

Erschienen am 25. Oktober 2011 in der Tageszeitung junge Welt und am 26. Oktober 2011 in der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek