Letzte Warnung

Venezuelas Opposition feiert einen Sieg, obwohl das Regierungslager bei der Parlamentswahl am Sonntag eine deutliche absolute Mehrheit erringen konnte. Das ist absurd, aber auch die überschwenglichen Freudenfeiern der von Präsident Hugo Chávez gegründeten und geführten Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) lenken von der eigentlichen Botschaft des Wahlergebnisses ab.

Durch die Verweigerung einer Zweidrittelmehrheit für die Regierung haben die Wähler in Venezuela die Konsequenz aus der kaum berauschenden Bilanz der Parlamentarier in der abgelaufenen Wahlperiode gezogen. Durch den Wahlboykott der Opposition vor fünf Jahren verfügten die Sozialisten und ihre Verbündeten über eine überwältigende Mehrheit in der Nationalversammlung, die sie jedoch kaum zu nutzen verstanden. Sie verschwendeten Zeit durch die Verabschiedung unzähliger Deklarationen, anstatt die Situation im Parlament zu nutzen, um den Aufbau des Sozialismus in Gesetzesform zu gießen und institutionell zu untermauern. Und sie verschleppten wichtige Gesetze, wie das dringend notwendige neue Arbeitsgesetz, das seit Jahren in den Ausschüssen vor sich hindümpelt.

Die Stärke des revolutionären Lagers ist bislang die Schwäche der Opposition. Das heterogene Gemenge aus ultrarechten Terroristen, konterrevolutionären Sozialdemokraten, neoliberalen Emporkömmlingen und ähnlichen Erscheinungen wird nach wie vor nur durch den gemeinsamen Haß auf Chávez zusammengehalten. Es gelingt ihr weder, konstruktive Alternativen zu präsentieren, noch eine Führungspersönlichkeit aufzubauen, die Chávez bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2012 gefährlich werden könnte. Doch darauf kann sich die PSUV nicht ausruhen. Zu sehr wächst unter vielen Venezolanern der Unmut über ineffiziente Strukturen und ungelöste Probleme wie Korrup­tion und Kriminalität.

Die Regierungspartei lag wohl auch deshalb bei dieser Wahl nur wenige Stimmen vor der Opposi­tion und verfehlte sogar recht deutlich die 50-Prozent-Marke. Durch den Zuschnitt der Wahlbezirke spiegelt sich dies bei der Sitzverteilung im Parlament nicht wider, doch bei der nächsten Präsidentschaftswahl oder einem erneuten Amtsenthebungsreferendum gegen Chávez könnte dies verheerende Folgen haben. Zu sehr hängt der gesamte revolutionäre Prozeß noch immer an der Persönlichkeit des »Comandante«, die vielen wichtigen Ansätze einer partizipativen Demokratie – einer direkten Mit- und Selbstbestimmung durch die Bevölkerung – sind noch immer nicht ausreichend gefestigt.

Das Ergebnis vom Sonntag könnte die letzte Warnung gewesen sein. Schon vor drei Jahren – nach der Niederlage bei der Abstimmung über die Verfassungsreform – hatte Chávez zu einer Kampagne aufgerufen, Fehler zu berichtigen und der Revolution neuen Schwung zu verleihen. Bisher ist daraus zu wenig geworden.

Erschienen am 28. September 2010 in der Tageszeitung junge Welt