Legitime Antwort

Stellen wir uns doch einfach mal vor, das Bundesverfassungsgericht erklärt ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz für rechtswidrig – und Bundestagspräsident Norbert Lammert verkündet kackfrech, dass ihn dieses Urteil nicht interessiert, weil die Richter eh nur das tun, was Angela Merkel ihnen sagt. Die Folge wäre eine Staatskrise, denn die verschiedenen Gewalten müssen sich gegenseitig kontrollieren.

Nicht anders ist die Lage in Venezuela. Seit die rechte Opposition bei den Wahlen im Dezember 2015 die Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung gewinnen konnte, benutzt sie die Legislative als Gegenregierung. Das von Anfang an ausgegebene Ziel war und ist der Sturz des gewählten Präsidenten Nicolás Maduro. Der seinerzeitige Parlamentspräsident Henry Ramos Allup kündigte im Januar 2016 sogar an, der Staatschef werde innerhalb von sechs Monaten aus dem Amt scheiden – obwohl es dafür keine rechtliche Grundlage gab. Entscheidungen des obersten Gerichts wurden von der Legislative einfach ignoriert.

Auf diese Herausforderung hat Venezuelas Justiz reagiert. Analog zum Bundesverfassungsgericht hat auch der Oberste Gerichtshof in Caracas das letzte Wort bei der Auslegung der Verfassung und bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen der anderen Staatsgewalten. Würden die Richter die Provokationen der Legislative unbeantwortet lassen, würden sie sich selbst abschaffen.

Natürlich ist der Streit zwischen den verschiedenen Säulen des venezolanischen Staats nur ein Symptom. Im Kern geht es um dieselbe Auseinandersetzung wie in den vergangenen 18 Jahren, seit Hugo Chávez als neugewählter Präsident die »Bolivarische Revolution« ausrief. Seither haben die Regierungsgegner nichts unversucht gelassen, um diesen Reformprozess zu stoppen und umzukehren. Dazu gehörten Mordanschläge, Putschversuche – am 11. April jährt sich der zeitweilige Sturz von Hugo Chávez zum 15. Mal –, gewaltsame Proteste, ausländische Einmischung, Wirtschaftssabotage und internationale Medienkampagnen. Auf die Regeln der Demokratie setzt die Opposition in Venezuela nur dann, wenn es ihr in den Kram passt. Deshalb ist es albern, nun genau diese Herrschaften zu Hütern der Verfassung und der Rechtsstaatlichkeit erklären zu wollen.

Ob die Regierung von Nicolás Maduro immer taktisch und strategisch richtig agiert, steht dabei auf einem anderen Blatt. Der Staatsapparat hat sich zuletzt darauf versteift, die Attacken der Rechten mit bürokratischen und administrativen Mitteln auszubremsen. Auf der Strecke blieb dabei das, was unter Chávez die Stärke des bolivarischen Prozesses ausgemacht hat: die Mobilisierung und Selbstorganisation von unten. So jedoch bleibt die »Bolivarische Revolution« in der Defensive gefangen. Trotzdem ist es völlig legitim, dass die Regierung alles rechtlich Mögliche unternimmt, um ihren Sturz zu verhindern. Etwas anderes wäre unverantwortlich.

Erschienen am 1. April 2017 in der Tageszeitung junge Welt